Tore der Zeit: Roman (German Edition)
dieser eine Satz durch den Kopf: Man kann eine Hexe nicht zwingen.
Yvonne legte den Kopf in den Nacken. Nebelschwaden wickelten sich um die Spitze des Hexenturms und trieben wieder auseinander. Behutsam löste sie den Stab von ihrem Gürtel und schlug damit gegen die Mauer.
»Amantes amentes«, befahl sie flüsternd. Liebende sind Verrückte.
Auf den rauen Steinen erschien ein Schriftzug – schwach erst, doch dann glühte er immer heller. Ein lautes Knirschen ertönte. Die äußere Mauer des Hexenturms drehte sich. Eine Öffnung erschien, und es zeigte sich, dass es eine zweite, innere Mauer gab. Langsam schob sich der äußere Eingang über die zweite Tür. Sobald die Öffnungen zur Deckung kamen, schlüpfte Yvonne hindurch. Die Mauer drehte sich weiter um sie. Der Durchgang verschwand wieder. Jemand, der nach ihr in den Turm der Hexen treten wollte, musste die Losung kennen.
Vielleicht fühlten sich die Sieben deshalb so sicher?
Im Untergeschoss hatten sie keine Wachen aufgestellt. Es war ein runder, fensterloser Raum, in dem es nach Stroh, Pferden und alten Steinen roch. Eine Laterne hing an einer Kette von der Decke. Ihr unruhiger Schein fiel auf die silbrigen Kruppen der Hexenschimmel. Die Tiere waren mit dem Halfter an Eisenringen angebunden. Jemand hatte sie gestriegelt und ihnen Heu vorgeworfen. Nun dösten sie mit angewinkelten Hinterbeinen. Als Yvonne näher trat, hoben sie die Köpfe und blickten sie mit ihren großen, dunklen Augen an.
»Ruhig«, flüsterte sie und trat zu dem Pferd, das sie bei ihrem Aufenthalt im Konvent der Hexen geritten hatte. Sie kraulte dem Schimmel die weiche graue Nase, schob die Hand in die Wärme unter der dichten Mähne. So stand sie und lauschte, ob ihr Eindringen bemerkt worden war. Vielleicht hatten sich die Bewohner des Turms darauf verlassen, dass die Pferde unruhig werden würden und sie warnten. Aber die Schimmel kannten sie – vor allem Changeling, der gierig an ihrem Ärmel zupfte. Sie tätschelte ihm den Hals. Von oben hörte sie Stimmen, die erregt miteinander stritten. Männerstimmen, zweifelsfrei. Constantins Ritter in ihrer dunkelsten Stunde.
Lautlos ging sie zur Treppe. Der Aufgang befand sich in einem separaten Treppenturm, einem engen Gemäuer, das sich seitlich an den Bergfried schmiegte. Durch Schlitze in der Mauer drang die kalte Nachtluft herein. In jedem Stockwerk gab es einen Absatz, von dem ein Durchgang in den eigentlichen Turm führte.
Nach acht Stufen fing Yvonne an zu keuchen. Nach zwölf Stufen stöhnte sie, denn der Schmerz kehrte stechend wieder. Als sie schließlich den ersten Absatz erreicht hatte, lehnte sie sich an das Geländer und schöpfte Atem.
Gereizt tastete sie nach dem magischen Stab, der in den Falten ihres Gewands verschwand. Es verschaffte ihr jedoch keine Erleichterung mehr, das magische Feuer zu berühren. Vielleicht lag es an der Nähe des Tors? Ein riesiges Portal, das eigentlich nicht offen stehen durfte. Eine Krümmung von Zeit und Raum, die ihr den Schlaf raubte. Die Erscheinung hing wie ein dreidimensionales Spinnennetz zwischen den beiden Türmen. Ein Labyrinth von unendlicher Tiefe.
Yvonne holte ein-, zweimal tief Atem. Dann straffte sie den Rücken und schritt auf den Durchgang zu. Ein Duft stieg ihr in die Nase, eine Mischung aus Bienenwachs, Gips und Lavendel. Als Nächstes sah sie hunderte körperlose Flammen, die in der Dunkelheit zu schweben schienen. Sie umgaben einen aufgebahrten Körper, der mit einem Laken zugedeckt war. Die Gesichter der Hexenritter tauchten aus den Schatten auf und verschwanden wieder, je nachdem, wie sie sich bewegten.
Mit angehaltenem Atem schmiegte Yvonne sich gegen den kalten Steinrahmen der Tür. Eine Totenwache für Constantin.
»Du solltest nicht so verdammt stur sein, Lucian.« Das war Ramon. Seine Stimme drang aus der Dunkelheit der Turmkammer. Er klang gereizt.
»Ich bin nicht stur«, erwiderte Ravennas Ritter. Er saß hinter dem toten König. Yvonne sah sein Gesicht nur, wenn er hochschaute.
»Ich bin nur nicht geeignet«, fuhr Lucian fort. »Das ist alles.«
Ramon tauchte hinter ihm auf, schnappte sich die schwarze Lederscheide und hielt sie hoch, sodass der Flammenschein auf dem Flechtmuster glänzte. »Und was ist das? He? Kannst du mir das sagen? Cor – es heißt jetzt Cor! Du führst neuerdings eine Klinge mit einem Namen. Und da willst du wirklich behaupten, du seist ungeeignet ?«
»Gib her!« Ärgerlich griff Lucian nach dem Schwert und ließ es wieder in
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