Tore der Zeit: Roman (German Edition)
sie bereits das wehende, frühlingsgrüne Band am Ende der Bahn vor Augen – die Ziellinie.
Auch dort versammelten sich Hexer.
Ravennas Magen verkrampfte sich. Lucian und die Sieben waren noch zu weit entfernt, um einzugreifen, eine schimmernde Kette am Rand der Menge, fast auf gleicher Höhe wie sie. Ihr Ritter schien zu erkennen, was vor sich ging. Er ließ die Zügel schießen und zog das Schwert. Ghost galoppierte außen an den Reihen der Zuschauer entlang, doch sein Reiter musste den Umweg um die Menge in Kauf nehmen, um die Türme zu erreichen.
Die Entfernung zum Ziel bemaß sich mittlerweile in Bruchteilen der Rennstrecke. Die Hexer formten einen Halbkreis und schritten ihr entgegen. Sie würden sie um keinen Preis durchlassen – das war von ihren Mienen abzulesen.
Ein schwarzer Pferdekopf tauchte neben Ravenna auf, und sie schreckte zusammen. Spellbreaker hatte unfassbarerweise genug Atem übrig, um auf einer Strecke aufzuholen, die steil bergauf führte.
»Das Losungswort für den Turm – kennst du es?«, brüllte ihr Vadym zu. Seine Stimme war vor Wut verzerrt.
»Woher denn?«, rief Ravenna zurück. Dann begriff sie seinen Zorn. »Verdammt, Beliar hilft mir doch nicht! Er steckt mir bestimmt keine Spickzettel zu!«
Vadym zeigte die Zähne. »Dann bleib neben mir, verdammte Chexe!«, schrie er ihr zu. »Seite an Seite. Und wehe, du belügst mich.«
Er machte ihr tatsächlich ein Angebot. Vadym steckte die Hand in sein Wams. Als er sie wieder hervorzog, hielt er eine Schneekugel zwischen den Fingern.
Zumindest hielt Ravenna das Ding auf den ersten Blick dafür. Als Vadym den Glaskörper hob und das Sonnenlicht hindurchfiel, erkannte sie jedoch, dass die Kugel massiv war. Ein scharf gezeichneter Äquator lief um die Mitte. Als Vadym eine Formel murmelte, zog sich der Ring zusammen.
»Was ist das?«, schrie sie dem Russen zu. Der Gegenwind wehte ihr Haarsträhnen in den Mund. So einen Zauberkristall hatte sie noch nie gesehen.
»Eine Poincaré-Kugel«, brüllte Vadym zurück. »Mathematische Magie. Nach einem Modell von Gromoll. Das Seelen-Theorem, schon mal gehört? Riemann’sche Mannigfaltigkeiten … verdammt, Ravenna – sieh nach vorn !«
Das Letzte schrie er aus vollem Hals. Sie warf sich herum, gerade noch rechtzeitig, um zu erkennen, dass ein Kraftstoß aus den Eisen-Pentagrammen der Hexer hervorbrach. Eine Feuerzunge leckte über sie hinweg, versengte ihre Haarspitzen und die Mähne der Stute. Gestank nach verbranntem Horn stach ihr in die Nase. Die folgende Schockwelle warf sie fast aus dem Sattel.
Rauch wehte von Vadyms Ärmel. Aber er umklammerte noch immer seinen mathematischen Kristall. Ein weiteres Schütteln der Kugel erzeugte einen Ruck am Äquatorring. Blitzschnell zog sich der Kreis zusammen und verschwand in einem Punkt. Im selben Augenblick verschwanden auch die Hexer. Sie lösten sich vor Ravennas Augen auf. Nichts als ein Flimmern der Luft blieb zurück und die Erinnerung an entsetzte Gesichter.
»Wo sind sie?«, stöhnte Ravenna auf. »Was ist passiert? Was geschieht mit einem Menschen, wenn er in dieses Poincaré-Loch fällt?«
Vadym hatte ein Tor erschaffen – das begriff sie sofort.
»Ist mir cherzlich egal!«, gab der Russe zurück. Die Pferde rasten jetzt so dicht nebeneinander dahin, dass die weiße und die schwarze Mähne ineinander zu fließen schienen. »Wir chaben nur das Diesseits berechnet, das Jenseits geht uns nichts an. Macht es dir wirklich etwas aus?«
Sie kam nicht mehr zu einer Antwort. Das frühlingsgrüne Band wickelte sich um die vom Schweiß glänzende Brust des Rappen. Gleichzeitig spannte es sich um die Schultern ihrer Stute. Dann zerriss es.
Sie hatten die Ziellinie durchbrochen – das wurde Ravenna erst bewusst, als die Pfosten hinter ihr zurückfielen. Seite an Seite, hatte Vadym gesagt. Sie warf ihm einen dankbaren Blick zu und zog die Zügel an, um die Stute abzubremsen.
In diesem Augenblick entdeckte sie Velasco. Lucians Vater stand auf dem westlichen Turm und reckte beide Arme empor. Zwischen seinen Händen funkelte der Kristall, hell wie die Sonne.
»Achtung – dort oben!«, schrie sie. Lucian kam mit Ghost auf der Hochebene an, gefolgt von seinem König und seinen Freunden. Die Aufmerksamkeit der Sieben war auf die Menschenmenge gerichtet. Die Massen hatten den Ausgang des Rennens beobachtet. Nun stürmten sie den Hang hinauf.
Velasco reckte den Kristall in die Höhe. »Terra magyca!« , schrie er.
Ein gewaltiger Stein löste
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