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Tore der Zeit: Roman (German Edition)

Tore der Zeit: Roman (German Edition)

Titel: Tore der Zeit: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Lea Nicolai
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klirrte er mit der Waffe an seinem Gürtel.
    Yvonne wischte die Hände an ihrem Kleid ab. Dann fasste sie sich ein Herz und trat in die Kammer. »Vielleicht bietet sich tatsächlich bald eine Gelegenheit für einen Vergleich der beiden Thronanwärter«, sagte sie. Alle Augen wanderten zur Tür. »Morgen bei Sonnenaufgang findet ein letzter Wettkampf statt, bevor Ravenna durch das Tor auf dem Montmago tritt«, fuhr sie rasch fort. »Findet euch bei Sonnenaufgang vor dem Portal ein.« Mit schönen Grüßen von Beliar, wollte sie noch sagen. Aber die Worte erstarben in ihrer Kehle. Die Ritter griffen nach den Waffen. Terrell, Chandler und sogar der sanfte, freundliche Darlach zogen ihre Schwerter. Die Schwertspitzen richteten sich auf sie.
    Es dauerte einige Sekunden, bis sie sich wieder gefasst hatte. Sie lachte leise und hoffte, dass es nicht allzu verängstigt klang. »Ich bin Ravennas Schwester. Wollt ihr wirklich die Schwester der Tormeisterin töten?«
    »Verdammte Schwarzkünstlerin. Wie lange stehst du schon unter diesem Durchgang?«, herrschte Chandler sie an. Marvin versetzte seinem faulen Wachhund einen Tritt, der den Köter jaulend auffahren ließ.
    »Lange genug, um zu erfahren, dass ihr Probleme habt«, gab Yvonne zurück.
    »Halt den Mund!«, fiel Ramon ihr ins Wort. »Was immer du uns vorschlagen willst – vergiss es. Von dir nehmen wir keine Ratschläge an. Sollte dir entgangen sein, was heute geschah? Der König wurde ermordet.«
    »Ja, ich weiß. Und es tut mir leid.«
    Schweigen. Auch Yvonne presste die Lippen aufeinander. Hatte sie das eben wirklich gesagt? Ihr Herz pochte: Die Wahrheit war gefährlich. Gefährlicher als geschliffene Waffen. Die Wahrheit durfte niemals ans Licht kommen.
    »Es tut mir leid«, wiederholte sie in vorsichtigerem Ton. »Aber die Herausforderung morgen ist entscheidend. Es geht um Vertrauen und Loyalität. Das sind echte Königstugenden. Kommt einfach zum Tor. Dann werdet ihr schon sehen, was von euch verlangt wird.«
    »Scheiß auf die Tugend«, fauchte Marvin. Sein Hund fing an zu knurren. »Wer bringt die dreimal verfluchte Hexe mit mir nach oben und wirft sie von den Zinnen?«
    »Sie bekommt ein Kind«, widersprach ein sommersprossiger Junge erschrocken, allem Anschein nach ein Verwandter des Spähers.
    »Und sie hat recht«, warf Darlach ein. »Sie ist Ravennas Schwester. Wir dürfen ihr nichts tun. Wir sollten sie nicht einmal mit der Waffe bedrohen.« Mit einer geschickten Bewegung steckte der Ritter der Maikönigin sein Schwert fort. Zögernd folgten die anderen Männer seinem Beispiel, nicht ohne zornige Blicke in ihre Richtung zu werfen.
    Yvonne atmete auf. Sie hatte gar nicht gemerkt, dass sie die Luft angehalten hatte.
    »Ich würde gerne mit den Sieben sprechen«, sagte sie. »Mit Nevere. Und mit Ravenna.«
    Eine Heilerin – sie würde wirklich gerne den Rat einer Heilerin einholen. Während ihrer Schwangerschaft hatte sie keine Medizinerin zu Gesicht bekommen, weil Velasco unter Verfolgungswahn litt und sie nicht einmal in die Nähe einer Hebamme lassen wollte. Nun verspürte sie das dringende Bedürfnis, sich Nevere anzuvertrauen. Sie musste wissen, wie lange sie die Geburt noch hinauszögern durfte. Ob Ardor magyca dem Baby schadete. Welchen Einfluss der Kraftstrom des Tors auf das Ungeborene hatte. Sie hatte tausend Fragen. Vor allem aber hatte sie Angst.
    »Lasst uns allein«, verlangte Lucian da. Er war nicht aufgesprungen, als seine Freunde die Schwerter zogen. Er hockte bloß hinter der Leiche des Königs und ballte die Fäuste. »Geht! Ihr alle. Marvin, nimm deinen Hund mit. Haltet unten bei den Pferden Wache. Ich möchte heute Nacht nicht noch mehr ungebetene Besucher empfangen.«
    Yvonne zog eine Augenbraue in die Höhe. In ihren Ohren klang dieser Tonfall auffällig nach einem zukünftigen König. Aber sie hütete sich, eine unvorsichtige Bemerkung zu machen.
    Die Ritter rafften ihre Mäntel und Waffengürtel zusammen und schritten auf den knarrenden Dielen zum Ausgang.
    Sie ging zum Fußende der Bahre und kniete nieder. Dann heftete sie die Augen auf den zugedeckten Leichnam.
    Das Stimmengemurmel der Ritter entfernte sich. Es wurde still im Turm. So still, dass sie den Wind in den Fensteröffnungen fauchen hörte. Gelegentlich tropfte Wachs von den Kerzen. Ein Käuzchen schrie im nahen Wald.
    Sie betrachtete den Toten. Die Gegenwart des Leichnams verursachte ein merkwürdiges Gefühl in ihrem Magen, so wie damals, als Mémé gestorben war und

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