Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Tore der Zeit: Roman (German Edition)

Tore der Zeit: Roman (German Edition)

Titel: Tore der Zeit: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Lea Nicolai
Vom Netzwerk:
sich die ganze Familie auf dem Hof der Eltern versammelt hatte. Eine Grenze war überschritten worden. Das Ereignis, das zum Tod geführt hatte, war nicht mehr rückgängig zu machen. Nie mehr.
    Sie hatte tatsächlich nicht gewollt, dass Constantin starb. Das stellte sie fest, je länger sie über den Unglücksfall nachdachte. Velasco hatte vorgegeben, dass er und seine Schwarzmagier an der Ziellinie für Ordnung sorgen wollten. Beliar hatte dem Hexer nicht vertraut und gleichzeitig seine eigenen Leute an der Linie postiert. Aber dann war alles so furchtbar schnell gegangen. Der Fluch, der Stein – niemand hatte damit gerechnet, dass der Hexer von Carcassonne so weit gehen würde. Er hatte sie alle in Gefahr gebracht. So kurz vor dem Ziel … Lucians Vater war wirklich ein verdammter Irrer.
    Yvonne zwang sich, den Blick von dem Toten abzuwenden. Lucians Platz hinter dem Leichnam war leer. Erschrocken drehte sie sich um, doch er stand bereits neben ihr, lautlos wie ein Schatten.
    Sie wich vor ihm zurück. Der Ausdruck auf seinem Gesicht, der wilde Zorn, die Schwärze seiner Augen – so hatte Velasco oft vor ihr gestanden, in Wirklichkeit und in ihren Albträumen.
    »Du wirst mir jetzt antworten«, zischte der junge Ritter. »Und wage es ja nicht, mir irgendwelche Lügen aufzutischen. Ich will wissen, was damals auf dem Hof eurer Eltern geschehen ist. Jede Einzelheit. Ich will mich erinnern, wie es dazu kommen konnte.«
    Er meinte ihren Zustand. Sie fand das Gleichgewicht wieder, verteilte ihr Gewicht auf die schmerzenden Knie. »Was glaubst du wohl? Ich meine, du weißt doch, wie es gewöhnlich dazu kommt: ein Mann, eine Frau, eine Mondnacht. Das Übliche eben.«
    Lucian packte sie an den Haaren und riss ihr den Kopf in den Nacken.
    »Du gehst offenbar davon aus, dass ich nicht imstande wäre, dir weh zu tun. Du täuschst dich, Hexe. Ich bin sehr wohl in der Lage dazu. Mehr als du ahnst. Also antworte mir: Wie konntest du mich so blenden, dass ich nicht merkte, als du zu mir ins Bett gekrochen kamst?«
    »Oh, du hast es gemerkt. Und wie du es gemerkt hast. Sonst wäre ich wohl nicht schwanger.«
    Ein zweiter Ruck, deutlich schmerzhafter als der erste. Ravennas Ritter würde ihr das Genick brechen, wenn sie ihn weiter reizte. Wie ein verschwommener Schemen ragte er über ihr auf. Sie wand sich in seinem Griff und grub ihm die Fingernägel ins Handgelenk, aber es beeindruckte ihn nicht. Schmerz beeindruckte ihn nicht.
    »Welche Art von Fluchzauber hattest du über mich geworfen?«, fuhr er sie an. »Antworte mir! Du hattest eine Haarsträhne von mir. Aber das reicht bei Weitem nicht aus, um einen Mann zu verführen, der eine andere liebt. Sag mir endlich die Wahrheit, Yvonne!«
    Du lieber Himmel. Er liebte Ravenna wirklich, sonst würde er nicht so einen Aufstand machen. Bestimmt hatte jeder seiner Freunde ein halbes Dutzend Bastarde gezeugt, mit einem halben Dutzend verschiedener Frauen. Der Schönling Ramon zum Beispiel – wenn die Gerüchte stimmten, war er Norani erst treu, seit ihm Beliars Lanze das Gesicht zerschmettert hatte.
    »Du wolltest es«, stieß sie hervor. »In jener Nacht wolltest du es auch! Du warst einsam, verzweifelt. Ravenna war in der Klinik, und wir beide … ah! Auaa!«
    Er schüttelte sie. An den Haaren.
    »Was hast du damals mit mir gemacht?«, brüllte er. » Amantes amentes . Liebende sind Verrückte, so lautet das Losungswort für diesen Turm. Meinst du etwa Ravenna und mich damit? Glaubst du, du kannst dich über uns lustig machen? Du hast keine Ahnung, was magische Gefolgschaft bedeutet. Man legt sein ganzes Herz hinein. Sein Leben.«
    Sie wimmerte. Tränen verwischten das goldene Kerzenlicht zu Schlieren vor ihren Augen. Mit der linken Hand tastete sie nach dem Stab.
    »Warum? Warum musstest du uns das antun, Yvonne? Die Liebe zu Ravenna war die erste und einzige Sache in meinem Leben, die ich nicht verpfuscht habe. Sieh dir Constantin an! Schau ihn dir an – dann erkennst du, was aus Menschen wird, die sich mit mir einlassen!«
    Er schleifte sie über den Fußboden zur Bahre. Sie strampelte, trat nach seinen Fußknöcheln, aber er dachte nicht daran, sie entkommen zu lassen. Mit einem Ruck riss er das Laken über Constantins Leiche weg. An den Haaren zog er sie hoch.
    Yvonne schrie so laut, dass sie vor ihrer eigenen Stimme erschrak. Auf dem Tisch lag ein entsetzlicher Klumpen verwitterten Gesteins. Nur entfernt erinnerte der Brocken an einen Menschen. Die Haut war löchrig und

Weitere Kostenlose Bücher