Tore der Zeit: Roman (German Edition)
mehr, was sie tun konnte. Das Tor auf dem Montmago war versiegelt. Der Strom hatte das Siegel der Tormeisterin mit sich fortgerissen. Lucian war im Zeitalter der Ritter und Hexen zurückgeblieben, unfassbare siebenhundertachtundfünfzig Jahre entfernt von ihr.
Sie hatte ihn für immer verloren. Und sie konnte ihm nicht einmal sagen, wie leid es ihr tat. Dafür hatte Yvonne gesorgt.
»Ravenna! Bitte!«
Diesmal ging der Schrei in der einsetzenden Erkennungsmelodie unter. Aber er hatte näher geklungen. Ein greller Scheinwerfer riss Ravenna aus ihren Gedanken. Sie blinzelte ins Licht. Auf der Leuchtwand sah man nun wieder sie, wie sie auf dem Hocker kauerte.
»Zeit zu wählen«, verkündete Beliar und drehte den Stuhl in ihre Richtung. »Ein letztes Mal musst du eine Entscheidung fällen, Ravenna.« Er wartete, bis die Musik verklungen war. »Wenn wir dich nun vor die Wahl stellen, ob du deine Schwester wiedersehen möchtest oder lieber das Geld nimmst und verschwindest – wie würdest du dich entscheiden?«
Ein lautes Pochen dröhnte aus den Lautsprechern, ein Echo ihrer Herztöne. Am Rand des Diodenfelds wurde eine winzige Sanduhr eingeblendet. Die Zeit verrann. Sie fühlte sich wie gelähmt, schlimmer, als es im Tor gewesen war.
Dann wurde sie auf einmal unfassbar wütend. Wie konnte Yvonne ihr etwas Derartiges antun? Fay ce que voudras. Tu, was du willst – so lautete das Motto der Weißen Hexen. Doch es gab einen Zusatz. Tu, was du willst, solange es niemandem schadet – das schworen Wiccas einander. Auch Yvonne hatte es einmal versprochen, lange bevor sie eine von Beliars Fürstinnen wurde. Doch andere Menschen waren ihr vollkommen egal.
Mit der flachen Hand schlug Ravenna auf den Koffer. »Ich nehme das Geld«, stieß sie hervor. »Ich wähle die Million. Schließlich habe ich den Preis auf ehrliche Weise gewonnen.«
Soll Yvonne doch zusehen, wo sie bleibt, dachte sie.
Wieder derselbe Schrei. Verzweifelt diesmal.
Als sie aufblickte, sah sie Beliars triumphierendes Grinsen direkt vor sich. Es war nicht die Freude eines Moderators, der den Sieg mit seiner Kandidatin teilt – es war eine Grimasse gieriger Genugtuung. Der Spielmacher bleckte die Zähne. Schweißperlen liefen ihm über die Schläfen. Dabei blieben die Augen vollkommen kalt.
Als sie Beliar so vor sich sah, wusste sie sofort, dass er sie hereingelegt hatte. Wie weit würdest du gehen? Würdest du deine Schwester verraten – eine Hexe, wie du auch eine bist. Würdest du sie im Stich lassen?
Ravenna riss die Hand zurück, als hätte sie auf eine heiße Herdplatte gefasst.
»Nein«, schrie sie. »Nein, stopp. Ich habe es mir anders überlegt. Ich will meine Schwester sehen. Ich will zu ihr. Sofort!«
In diesem Augenblick erklang die dünne Stimme erneut, irgendwo im Publikum. »Ravenna! Bitte! Wenn du es nicht wegen mir tust – tu es für das Baby.«
Sie beschattete ihre Augen und musterte die Schattenrisse hinter den Lampen. »Yvonne? Bist du das?«
Sie glitt von dem Hocker herunter. Ein Stöhnen ging durch die Reihen der Zuschauer. »Yvonne, sag etwas, damit ich weiß, wo du bist.«
»Hier. Ich bin hier drüben.«
Ravenna ging in die Richtung, aus der sie die Stimme hörte. Ein Spot folgte ihr. Der Scheinwerfer geisterte über die Gesichter der Menschen, die sich auf der Terrasse versammelt hatten. Da waren Dutzende von Zuschauern, die auch schon den Anfang der Staffel verfolgt hatten, Techniker, Sicherheitskräfte, der Aufnahmeleiter. Dann streifte der Lichtkegel ein bleiches Paar, zögerte kurz und kehrte zu den beiden Frauen zurück.
Oriana hatte sich Yvonnes Arm um die Schultern gelegt und hielt sie fest. Es war nicht zu erkennen, ob die Fürstin der Luft Yvonne in irgendeiner Weise bedrohte. Ihre Schwester war kreideweiß. Sie schien sich kaum noch auf den Beinen halten zu können. Ihre Augen waren weit aufgerissen.
»Es ist nicht so, wie ich in dem Interview sagte«, keuchte sie, als Ravenna auf sie zukam. »Bitte. Das musst du mir glauben. Beliar hat diese Aufnahmen gemacht, als … als ich …« Stille. Dann sagte Yvonne: »Das war in einer anderen Zeit gewesen. Verstehst du? In einem anderen Leben.«
Ravenna nickte. Sie beide waren in der Vergangenheit gewesen. Was geschehen war, war geschehen. Das Meiste lag mehr als siebenhundert Jahre zurück.
Beliar beugte sich über sein Mikrofon. »Lautet so deine Entscheidung? Du entscheidest dich für das Wiedersehen mit deiner Schwester? Ist das dein letztes Wort?«
Ravenna
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