Tore der Zeit: Roman (German Edition)
den zerklüfteten Felsen des Montmago in Streifen geschnitten wurde. Ihre letzten Strahlen warfen lange Schatten. Schließlich verschwand das rote Licht hinter dem Bergsattel. Die Luft wurde kühler und dunstiger. Der große Hengst wirkte nun wie ein silberner Schatten.
Noch immer fand Lucian keinen Grund, sich zu bewegen. Er spürte die aufsteigende Feuchtigkeit durch das dünne Leinenhemd. Fühlte sich matt und zerschlagen, ausgelaugt am Ende einer langen Schlacht, die er schließlich verloren hatte.
Zweifellos begann unten im Tal bereits der Machtkampf um die Königswürde. Die Grafen würden diesen Streit nun unter sich ausfechten. Ob Ramon sich einmischte oder ob er es bleiben ließ … Lucian war zu müde, um darüber nachzudenken. Im Grunde war es ihm egal, wer die Krone bekam, solange es nicht Velasco wurde. Und das war ausgeschlossen. Sein Vater hatte dieses Zeitalter für immer verlassen.
Ghost riss den Kopf hoch. Der Wolfshund tauchte zwischen den Büschen auf, verharrte einen Moment mit hochgezogenem Vorderlauf, witterte. Mit gesenktem Kopf trottete er dann auf Lucian zu und leckte ihm über die Hand. Der Hund stupste ihn mit seiner kalten, feuchten Nase an, als er sich nicht bewegte.
Ein Rotschimmel folgte dem struppigen Köter. Der Reiter hatte den Hut tief in die Stirn gezogen. Ghost trabte dem Ankömmling entgegen und begrüßte das fremde Pferd. Marvin ließ sich aus dem Sattel gleiten, warf die Zügel auf den Boden. Umständlich kletterte er zu Lucian herauf und setzte sich neben ihn. Mit einem Ächzen streckte er die verdreckten Stiefel aus.
Keiner von ihnen sagte ein Wort. Am Himmel blinkten die ersten Sterne. Am Fuß des Montmago bildeten sich dichte Nebelschwaden.
Nach einer Weile kramte Marvin in seinem Mantel herum und zog eine Flasche hervor, die mit Korbgeflecht umwickelt war. Er entkorkte sie und trank einen tiefen Zug. Ein stechender Geruch wehte zu Lucian herüber. Als Marvin ihm die Flasche hinstreckte, schüttelte er den Kopf. Mit der flachen Hand trieb Marvin den Korken zurück in den Flaschenhals und grunzte leise.
Dunkelheit hüllte die Berge nun ein. Nur im Westen leuchtete der Himmel noch in einem seltsamen, grünen Licht. Der Wolfshund sprang auf den Felsen und versuchte sich zwischen sie zu drängen. Mit einem Schnaufen sank der Hund zu Boden, presste den rauen, warmen Körper an Lucian. Er stank nach fauligem Schlamm und Aas.
»Als du an den Hof des König kamst, warst du der Kleinste und Langsamste von uns allen«, sagte der Späher in die Stille. »Du warst so mager, dass du kaum das Holzschwert heben konntest, mit dem wir übten. Drei Streiche auf den Lederbalg und du hättest fast geheult. Ich wette, Ravenna weiß bis heute nichts über diese Zeit. Man will schließlich nicht sein Gesicht verlieren, nicht wahr?«
Lucian antwortete nicht. Er suchte sich eine Stelle am Horizont und starrte darauf.
»Niemand glaubte an deine Fähigkeiten«, fuhr Marvin fort. »Ich nehme an, dass du selbst kaum der Meinung warst, du könntest es schaffen. Es wenigstens bis zum Knappen bringen. Aber als Maeve in den Konvent kam, geschah etwas mit dir. Plötzlich warst du der Erste in der Schlange an der Waffenausgabe, der Schnellste auf dem Übungsplatz. Du hast dir eine andere Rüstung anpassen lassen. Nahmst dir ein kürzeres Schwert. Jede freie Minute warst du draußen, auch wenn es in Strömen goss. Malaury musste dich regelrecht aus dem Geviert zerren, sonst hättest du dir noch eine Lungenentzündung geholt. Damals dachten wir alle, du seist nicht ganz richtig im Kopf.«
Marvin tippte sich gegen die Stirn.
Sorgfältig spannte Lucian jeden einzelnen Muskel an, bis sich sein Körper wie Stein anfühlte. Als er die Muskeln wieder entspannte, fühlte er sich elender als zuvor.
»Sie ist weg«, sagte er. Er hatte so lange geschwiegen, dass seine Stimme belegt klang. »Ravenna ist fort. Wovon reden wir hier also?«
»Wir Jüngeren kannten Velasco damals noch nicht«, fuhr Marvin fort, als habe er den Einwurf nicht gehört. »Wir wussten nicht, was für ein Scheißkerl dein Vater ist. Du bist sein Sohn, sein erstgeborener, einziger Sohn. Da will man nicht mit dir tauschen, Lucian. Ganz sicher nicht. Aber du hast dich durchgebissen. Bis Constantin dich an seiner rechten Seite sitzen ließ und in allen Angelegenheiten deine Meinung hören wollte. Für den letzten Hund im Rudel bist du ein bemerkenswert zäher Bursche, mein Freund.«
»Ramon hat recht«, stieß Lucian hervor. »Die
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