Tore der Zeit: Roman (German Edition)
tiefer in die Höhle hinein, bis er auf einen Felsenbogen traf.
»Achtung, Vadym. Wir sind da«, raunte er. Er berührte den Russen am Arm, führte seine Hand, bis Vadym den Felsen fühlen konnte.
»Ein natürlich gewachsenes Tor. Bemerkenswert«, murmelte der Russe. Er hustete. Die Luft in der Höhle war unangenehm feucht. »So was habe ich noch nie gesehen.« Als Lucian das Schwert zog, fluchte er. »Was wird das jetzt?«
»Wir müssen diesen Durchgang öffnen«, erklärte Lucian. »Wir brauchen eine Verbindung zur anderen Seite. Einen Zielpunkt.« Er ließ sich auf die Knie nieder. Sofort sog sich seine Hose voll mit Wasser. Erneut suchte er den Boden ab, bis er die Stelle fand, an der das Rinnsal aus der Wand trat.
Ein Teil seiner Familie befand sich in der Zeit jenseits des Tores. Sein Vater … und sein ungeborener Sohn. Auch wenn er es noch immer schwierig fand, sich an diesen Gedanken zu gewöhnen: Sein Junge wurde in der fernen Zukunft geboren. Vielleicht geschah es sogar in diesen Minuten – siebenhundertachtundfünfzig Jahre von Montmago entfernt.
Vadym kauerte sich neben ihn. Der Russe raschelte eine Weile in seinen Taschen herum. Dann drückte er ihm einen kalten, schweren Gegenstand in die Finger. Mit dem Daumen befühlte Lucian den Ring. Er hatte eine raue Oberfläche. Unter der Fingerkuppe spürte er Blütenblätter und glatte Steine.
»Was ist das?«, fragte er.
Im Dunkeln hörte er, wie Vadym seufzte. »Das gehört deiner Chexe. Das Ding, das sie ins Tor geworfen hat … Aethera magyca . Als die Magie versiegte, fiel es auf den Boden.«
»Was?« Lucians Herz begann wild zu pochen. »Du hast Ravennas Siegel aufgehoben? Und das sagst du mir erst jetzt?«
Dann lachte er leise. »Du dachtest wohl, du könntest den Ring zu Geld machen. Gar nicht mal schlecht, Vadym. Nur leider ist das in meiner Welt unmöglich. Das ist das Siegel einer Hexe. Das kauft dir kein Mensch ab. Die Schattenseelen wissen nicht, wozu es gut ist, und die Leute mit einer Gabe haben Angst davor. Es gilt als schlechtes Omen, wenn man Geld dafür bezahlt. Für Magie.«
»Tja«, murrte Vadym. »Einen Versuch wäre es wert gewesen.«
Lucian packte ihn an der Schulter. Es war ein freundlicher Griff. »Wenn das hier vorbei ist, bringen wir euch nach Hause. Das verspreche ich. Meine Hexe ist die Tormeisterin. Wenn wir Ravenna finden, führt sie euch ganz sicher zurück in eure Welt. In diese Stadt … Sankt Petersburg.«
Der Ring klirrte leise, als Lucian ihn auf den felsigen Untergrund legte. Sorgfältig entblößte er den linken Arm.
»Ich weiß trotzdem nicht, ob wir es fertigbringen, in dieses Tor zu treten«, murrte Vadym. »Auch wenn es nur ein Nebentor ist: Man braucht einen starken Energiestoß, um es in Gang zu setzen und zu steuern. Etwas so Mächtiges wie …«
»Blut«, raunte Lucian ihm zu. Er setzte die Schneide des Schwertes auf seinen Unterarm und zog die Klinge in einem langen Schnitt durch seine Haut. »Blut, das zu anderem Blut fließt. Blut von derselben Art.«
Vadym fluchte erschrocken. Lucian streckte den Arm aus und tauchte die Finger ins Wasser. Im Dunkeln spürte er, wie die warme Flüssigkeit über seine Hand lief. Der Schnitt brannte. Sorgfältig ließ er das Blut in die Öffnung des Siegels tropfen. Dort mischte es sich mit dem Rinnsal. Mit der anderen Faust presste er das Heft der Klinge Cor gegen seine Brust.
»Cor, finðanier« , flüsterte er in der Dunkelheit. Herz, finde ihn.
Wasser tropfte von der Decke der Höhle. Lucian schloss die Augen und malte sich aus, wie sein Blut in dunkelroten Schlieren im Wasser floss. Bis zum Ausgang der Höhle und von dort weiter den Hang hinab, in Bäche, Flüsse und Seen. Es floss und floss, in die Weltmeere und rund um die Erde, von der seine Hexe steif und fest behauptete, sie sei rund wie ein Ball.
Vielleicht strömte auch die Magie im Kreis, sagte er sich. Vielleicht kamen alle Dinge, die irgendwann irgendwo losgelassen worden waren, eines Tages wieder an ihrem Ursprung an. An ihrem Ziel, ganz gleich, wie fern es lag.
Cor, finðanier.
Er hob den Kopf, als ein schwacher Wind durch die Höhle zu wehen begann. Der Boden unter seinen Füßen zitterte. Ein geisterhaftes Stöhnen und Kreischen ertönte und verklang wieder, ein Seufzen von Stahl auf Stahl.
Als Lucian sich aufraffte, rollten faustgroße Steine unter seinen Stiefelsohlen. Seine Glieder waren taub, und er verlor beinah das Gleichgewicht. Taumelnd kam er auf die Füße. Schotter knirschte
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