Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Tore der Zeit: Roman (German Edition)

Tore der Zeit: Roman (German Edition)

Titel: Tore der Zeit: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Lea Nicolai
Vom Netzwerk:
Schwert des Gegners im Auge. Ohne Vorwarnung sprang er vor, führte einen flachen Streich gegen Velascos Wade, auf die empfindlichen Sehnen gezielt. Geschickt wich der Hexer zurück. Er streckte die Hand aus und raunte: »Glywannier!«
    Lucian brüllte auf vor Schmerz. Fast hätte er das Schwert fallen lassen. Die Menschen auf dem Bahnsteig starrten erschrocken zu ihm herunter. Er torkelte auf den Schienen entlang, krümmte sich vor Schmerz. Velasco hatte das Teufelsmal wachgerufen. Es versengte ihn, fraß sich lodernd in seinen Verstand. Der Schmerz war so grausam wie an jenem Tag, an dem ihm sein Vater seine Gesetze mit einem glühenden Griffel in die Haut schrieb.
    Velasco schritt über ihm an der Bahnsteigkante entlang, das Schwert in der Faust. Wieder erschallte eine Durchsage, kündigte die Einfahrt des nächsten Zuges an. Gedämpft war Sirenengeheul zu hören.
    Verzweifelt warf sich Lucian nach vorn. Diesmal spürte er, dass seine Klinge auf Knochen traf – mit der Breitseite zwar, dafür aber mit voller Wucht. Velasco taumelte, hinkte einige Schritte. Blindlings packte Lucian die Bahnsteigkante, schwang das Bein über den Rand, so wie er als Halbwüchsiger aufs Pferd gesprungen war. Er landete auf Händen und Knien. Vom Schmerz in seiner Schulter wurde ihm schlecht.
    Er zwang sich, den Gegner im Auge zu behalten. Velasco floh humpelnd zum Ausgang. Lucian stemmte das Schwert auf den Boden, zog sich hoch. Der Mann mit dem Telefon rannte auf ihn zu, schrie etwas und fuchtelte mit den Armen. Lucian warnte ihn mit erhobener Hand, er wollte weder Hilfe noch weitere Scherereien.
    An der Bahnsteigkante klebte Blut, viel Blut. Offenbar hatte er den Hexer schwerer getroffen, als er gedacht hatte. Leute drängten sich an der Wand und beobachteten ihn stumm, so wie man einen Irren mit einer blank gezogenen Waffe im Auge behielt.
    »Sie! He, Sie da!«, rief der Mann mit dem Telefon. »Bleiben Sie stehen!«
    Der Zug fuhr ein. Zischend öffneten sich die Türen, und ein Strom von Menschen ergoss sich auf den Bahnsteig. Lucian musste sich durch die Menge drängen, stieß die Leute vor sich auseinander. Das Schwert hielt er mit der Klinge nach unten. Velasco war bereits an der Rolltreppe. Rücksichtslos stieß er eine Frau zur Seite und rannte die Stufen hinauf.
    Jemand half der Gestürzten wieder auf die Beine. Ihre Hände waren aufgeschürft, die Einkaufstüten geplatzt. Orangen rollten durch das Untergeschoss. Unter einer Tüte breitete sich ein feucht glänzender Fleck aus. Scherben lagen auf dem Boden.
    »Du Arschloch!«, schrie die Frau Lucian zu, ohne zu begreifen, dass er der Verfolger war, nicht der Verfolgte. Er nahm zwei Stufen auf einmal, stürmte die Treppe hoch. Plötzlich strömte ihm kühle, regnerische Nachtluft entgegen, und er konnte leichter atmen. Hastig schaute er sich um.
    Ein Reiterdenkmal. Ein Park. Prachtstraßen und große, weiße Häuser. Und der Eiffelturm.
    Lucian lief über die Straße, ohne auf den Verkehr zu achten. Auf der anderen Seite schlängelte er sich zwischen geparkten Reisebussen hindurch. Voyages magiques verhieß die Aufschrift auf den Fahrzeugen. Die Leuchtschrift über der Windschutzscheibe verkündete, dass einige dieser Vehikel ihre Fahrgäste zum Finale des WizzQuizz bringen würden.
    Ein Polizeiwagen raste um das Rondell und hielt mit quietschenden Reifen vor der Métro-Station. Die Beamten sprangen mit gezogenen Waffen aus dem Auto. Lucian ging zügig, aber ohne zu rennen zwischen zwei großen Gebäuden hindurch.
    Sobald er außer Sicht war, fing er wieder an zu laufen, hastete breite Stufen hinunter, überquerte eine weitere Straße und betrat eine Brücke, die mit den Statuen halbnackter Pferdebändiger geschmückt war.
    Er ging langsamer weiter. Jede einzelne Muskelfaser in seinem Körper schmerzte, als sei sie gezerrt oder gedehnt worden. Die Finger, die das Schwert umklammerten, waren verkrampft. Lucian wusste nicht, ob er jemals in der Lage sein würde, die Waffe wieder loszulassen. Das Teufelsmal unter dem linken Schulterblatt brachte ihn beinahe um.
    Im Gehen nahm er den Wollmantel ab, der vom Dreck und Ruß im Pariser Untergrund fast schwarz geworden war. Er presste den Stoff auf den Schnitt in seinem Arm und stillte die Blutung. Sie hatte nicht aufgehört, seit er in der Höhle auf dem Montmago gekniet hatte – vor mehr als siebenhundert Jahren. Doch der Sturz durch ein Tor währte nicht länger als ein Lidschlag. Er hatte keine Erinnerung an den Durchgang. Ihm

Weitere Kostenlose Bücher