Tore der Zeit: Roman (German Edition)
ganze Zeit über habe ich euch vorgemacht, dass Velascos Erziehung keinen Einfluss auf mich hatte. Das Gegenteil ist der Fall.«
Er schob die Hand unter das dünne Hemd und rieb über das Teufelsmal. Geschmolzene Metallfäden spannten sich unter dem Schulterblatt. Die Narbe hatte sich tief in seine Haut eingebrannt – zu tief, um den Augenblick, in dem sie ihm zugefügt wurde, auch nur eine Sekunde lang zu vergessen.
»Das einzige Problem ist: Du denkst noch immer, du wärst ihm ähnlich«, meinte Marvin.
Überrascht blickte Lucian auf. Jeder, der ihn und Velasco kannte, behauptete, sie seien einander wie aus dem Gesicht geschnitten. Jeder Blick in einen Spiegel bestätigte das. Und was war mit seiner schwarzmagischen Gabe?
»Du kriegst ihn nicht aus dem Kopf.« Wieder tippte sich Marvin an die Stirn. »Hier drin fürchtest du, du seist genau wie er. Das genaue Gegenteil ist der Fall.«
Der Späher zog eine Grimasse. »Das heute Vormittag – das war ausgesprochen scharf nachgedacht, mein Freund. Wir wären fast in die Falle getappt. Ramon, ich … wir alle miteinander wären auf Velasco hereingefallen. Ich bin sicher, er hat diesen Schachzug wochenlang vorbereitet. Deshalb die Wette mit Beliar, deshalb der Mordanschlag auf den König. Sobald wir uns dann auf der anderen Seite des Tors eingefunden hätten, hätte er seinen Anspruch auf den Thron geltend gemacht. Velasco als König der Hexenritter – um ein Haar wären wir erledigt gewesen! Ich bin sicher, Ramon wird das auch erkennen, sobald er in Ruhe über die Angelegenheit nachdenkt.«
Lucian stützte den Kopf auf die Hände. Eine Weile saß er so da. Dann blickte er den Späher an. »Warum bist du hier?«, wollte er wissen. »Ich meine … was willst du von mir? Wir haben verloren. Das Spiel ist aus.«
»Sagen wir, ich habe eine Schwäche für den Hund am Ende der Meute«, murmelte Marvin. »Für den Kleinsten und Langsamsten, der immer nur die Reste zu fressen kriegt. Und ich sähe es wirklich verdammt gerne, wenn der magere Köter von damals heute mein König wird.«
Lucian schüttelte den Kopf. »Das ergibt keinen Sinn. Gestern Abend, im Turm der Hexen, sprachst du dich noch gegen mich aus. Und du hast recht, Marvin. Ich bin an Ravenna gebunden. Selbst wenn sie nicht mehr hier ist, wird sie immer die Hexe sein, die ich liebe.«
Marvin zuckte die Achseln. »Man wird doch wohl seine Meinung ändern dürfen«, brummte er. »Schließlich ist man hinterher immer schlauer.«
Mit diesen Worten stand er auf und stieg den Felsen hinunter. Er trat zu seinem Rotschimmel, öffnete die Schnallen der Satteltaschen und wühlte eine Zeitlang darin herum. Achtlos warf er alles zu Boden, was ihm in die Hände fiel: ein zerknittertes Hemd, eine Rolle Seil, einen Brotbeutel, eine Feile, ein Fässchen mit Tinte – wozu zum Teufel benötigte Marvin ein Tintenfass? –, zwei Hufeisen, die mit einer Schnur umwickelt waren, ein Säckchen mit Zunder und Feuerstein, einen Tiegel mit der Aufschrift Axungia Magae und eine Drahtschlinge.
»Wo habe ich sie bloß hingesteckt?«, brummte er.
Lucian erhob sich. Auch der Wolfshund sprang auf und schüttelte sich. Streckte die Vorderpfoten und gähnte aufgeregt.
»Wonach suchst du?«, fragte Lucian. Er kam vom Felsen herunter, bückte sich und hob den Tiegel auf. »Und wozu brauchst du Hexenfett?«
»Das ist Flugsalbe«, erwiderte der Späher. »Man nimmt nur wenig und trägt sie auf die Innenseite der Handgelenke auf. Nevere hat die Mischung zusammengestellt. Frag mich nicht, was sie hineingetan hat. Die Wirkung ist jedenfalls umwerfend.« Dann lachte er. »Da ist sie ja!«
Mit zwei Fingern zog er eine zusammengerollte Landkarte aus der Tasche. An den Rändern glimmte sie. Lucian erkannte das magische Leuchten sofort wieder: Es war dieselbe Karte, die Ravenna in Jodoks Schmiede gegen einen Sack voll Geld getauscht hatte.
»Woher hast du das?«, fragte er. »Wo kommt die Karte her?«
»Der letzte Besitzer hatte sie weggeworfen«, erklärte der Späher. »Wahrscheinlich dachte Vadym, dass er mit diesen Aufzeichnungen nichts mehr anfangen kann. Wir können das aber schon.«
Er grinste. Dann zog er die Schleife auf und wickelte das Band ab, das die Pergamentrolle zusammenhielt. Anschließend breitete er die Karte über dem Sattel des Rotschimmels aus.
»Siehst du hier? An dieser Stelle befand sich das Haupttor auf dem Montmago. Es war so mächtig, dass es alles andere überstrahlte. Jetzt, da es sich geschlossen hat, kann man
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