Tore der Zeit: Roman (German Edition)
beugte er sich über sie. Seine Augen waren jetzt vollkommen klar.
»Da ist noch etwas, was ich dir sagen will, und zwar so, dass du es auf jeden Fall hörst. Ich liebe dich, Ravenna.« Lucian stützte den Kopf auf die Hand und lächelte auf sie herunter. »Ich weiß nicht, wann ich das zum letzten Mal zu dir sagte. Aber von jetzt an werde ich es täglich wiederholen, in allen Sprachen, in denen du es hören möchtest. Ich liebe dich. Und daran wird sich auch in tausend Jahren nichts ändern.«
Als sie in den Schlosshof hinaustraten, blieb Ravenna einen Augenblick auf der Terrasse stehen. Der Tag war sonnig und warm. Am Eingang des Schlosshofs spielten ein paar Kinder mit einer ausgestopften Schweineblase Fußball. Ihre Schreie hallten unter dem Torhaus. Überall standen Blumenkübel mit Pfingstrosen, Jasmin und Flieder. Ein Imker hatte jeder der Sieben einen Bienenstock geschenkt. Das Summen der Insekten und das Pfeifen und Trillern der gefangenen Vögel erfüllten die Luft.
Sämtliche Einwohner der Burgstadt hatten sich im Schlosshof versammelt und dazu Dutzende auswärtiger Gäste. Die Banner der Adeligen wehten am Torhaus und entlang der Mauer. Der Graf de Barca und seine Krieger verharrten in der Nähe des Ausgangs. Ihre Mienen wirkten angespannt und düster. Das Muschelwappen blähte sich über ihnen und sank nach dem Windstoß wieder schlaff herab. Die Gräfin von Navarra hatte sich in ihrer Sänfte in den Schlosshof tragen lassen, doch sie stieg nicht aus. Stattdessen schlug sie den Vorhang ein Stück zur Seite und beobachtete das Treiben im Innenhof von sicherer Warte aus.
Nervös knetete Ravenna ihre Finger. Es war Marvin gelungen, nicht nur die Grafen, Herzöge und Barone aus dem Umland, sondern auch aus weiter entfernten Provinzen zusammenzurufen. Was heute im Schloss von Carcassonne geschah, würde für das ganze Reich der Sieben Gültigkeit haben.
Als sie die Treppe in den Innenhof hinabging, stieg ihr ein frischer, angenehmer Holzduft in die Nase. An der Stelle, an der Lucian im Winter den Schaukampf ausgefochten hatte, war mit Sägemehl ein siebenzackiger Stern auf den Boden gestreut. Die für die Hexen vorgesehenen Plätze befanden sich in kleinen Kreisen an den Spitzen des Sterns. In der Mitte stand ein kleines Podest, das mit grünen Zweigen, Borten und Blumen geschmückt war. Dort sollte die misslungene Königswahl wiederholt werden.
Ravenna suchte nach ihrer Schwester und entdeckte Yvonne schließlich an einem der Tische. Die Tafeln für die Besucher waren entlang der Mauer aufgestellt und mit aufgespannten Sonnensegeln vor dem grellen Licht geschützt.
Yvonne befand sich in Gesellschaft des Jägers Diego und seiner Familie. Liebevoll hielt sie ihren Sohn in einem Tragetuch auf dem Schoß. Ab und zu war ein Ärmchen zu sehen, eine winzige Faust, die nach Yvonnes Locken griff. In der Sonne glänzten ihre Haare wie helles Gold. Als Diegos Frau das Wort an sie richtete und ihr bei einer Handreichung half, blickte sie auf und lächelte. Ansonsten galt ihre ganze Aufmerksamkeit dem Baby.
Bei diesem Anblick entspannte sich Ravenna ein wenig. Alle waren Marvins Aufruf gefolgt und nach Carcassonne gekommen – Freunde wie Feinde. Lucian hatte ihr erklärt, weshalb diese Versammlung so wichtig war: Die Königswahl musste gültig sein, wenn das Reich der Sieben befriedet werden sollte.
Ravenna ließ den Blick über die feindlichen Adeligen gleiten. Plötzlich bemerkte sie eine Gestalt, die abseits von allen anderen im Schatten einer Nische saß. Die Burgherrin hatte auf einem Steinbänkchen Platz genommen. Ein Brunnen plätscherte in ihrer Nähe.
Ravenna durchquerte den Hof und blieb vor der Mauernische stehen. Die Marquise lehnte in der feuchten Kühle und kniff die Augen zu wie jemand, den das grelle Licht schmerzte. Sie war bleich – fast so weiß wie der Rabe auf ihrer Schulter.
»Elinor«, sagte Ravenna. »Haben dich die Sieben aus dem Hexenturm gelassen?« Sie meinte es nicht boshaft. Sie war ehrlich überrascht.
»Alle, ohne Ausnahme, sind zur Krönung des neuen Königs geladen«, stellte Elinor fest. »Ich nehme an, deshalb bist auch du wieder hier. Du und dein Ritter.« Ihr Tonfall klang kühl. »Demnach konntest du Beliars letztes Rätsel lösen. Das tödliche Rätsel.«
Ravenna nickte. »Das Tor auf dem Montmago war eine Falle. Es war dafür geschaffen, uns zu entzweien. Aber – ja. Lucian und ich sind wieder hier.«
Die Hexe vom Hœnkungsberg musterte sie. »Hoffentlich hast du
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