Tore der Zeit: Roman (German Edition)
nicht vergessen, wem du den Umstand verdankst, dass du noch lebst.« Der Rabe grub die Krallen in Elinors Schulter. Er schlug mit den Flügeln, ein Spiegel ihrer inneren Erregung.
Ravenna holte tief Luft. Einige der Gäste am Tisch schauten bereits zu ihnen hinüber. Sie beugten sich vor und tuschelten. Offenbar war den Leuten klar, dass sie mit der Hexe vom Hœnkungsberg sprach. Und es war nicht gerne gesehen. Einst hatte Elinor eine Burg mit vielen Hunderten Bediensteten und Soldaten kommandiert. Zuvor war sie auf dem Berg der Hexen ausgebildet worden – im Konvent der Sieben. Auch wenn ihre Kleider abgetragen und zerschlissen waren: Sie besaß noch immer Macht.
»Nein. Das habe ich nicht vergessen«, gab Ravenna zu. »Aber kein Mensch kann Morrigan einfach herbeirufen. Nicht einmal die Sieben könnten das. Die Hexengöttin erscheint, wann sie will und wem sie will. Und das weißt du. Das wusstest du auch, als du mir diesen Schwur abgenötigt hast. Es musste dir klar gewesen sein, dass du etwas Unmögliches verlangst.«
Elinor lächelte kühl. »Du hast dein Versprechen mit Blut geschrieben, Ravenna. Mit dem Blut einer Hexe. So ein Gelübde hat Gültigkeit.«
»Ich weiß, wie wichtig dir diese Begegnung ist«, murmelte Ravenna. »Dass sie vieles wiedergutmachen würde. Aber man schnipst nicht einfach mit dem Finger, und Morrigan taucht auf. So geht das nicht.«
»Es ist Königswahl«, sagte Elinor rätselhaft und blickte in Richtung des Podests.
Verwirrt drehte sich Ravenna um. Soeben nahmen die Sieben ihre Plätze ein. Ellis trug ein Kleid aus Leinen und hatte das Haar mit Blumen zu einem Kranz geflochten. Sie sah aus wie eine Bauerntochter an einem Feiertag – und genau das war sie auch. Josce hatte weiße Gewänder gewählt und wurde wieder von ihren Jagdhunden begleitet, Esmee dagegen kam von Kopf bis Fuß in grüner Seide. An Neveres Gürtel hing ein Medizintäschchen. Avelines Gesicht glühte vor Aufregung. Sie verschränkte die Finger mit ihrem Gefährten Terrell.
Norani schließlich war gekleidet wie eine Nomadenprinzessin. Ein dunkler Schleier betonte ihr schmales Gesicht und ihre grünen, katzenhaften Augen. In ihrem Gürtel steckte eine schmale Klinge. Ein Hexendolch. Ravenna beobachtete die Wüstenhexe, während sie den Schlosshof durchquerte. Norani konnte tatsächlich wie eine Löwin gehen: lautlos und geschmeidig.
Ravenna verschränkte die Arme, fröstelte im kühlen Schatten der Mauer. Sollte sie einfach in den für sie vorgesehenen Kreis treten? An den Platz der Tormeisterin? Sie hatte keine Ahnung, ob die Sieben sie und Lucian wieder in ihrer Runde aufnehmen würden. Seit dem unglücklichen Abschied auf dem Montmago war kein Wort mehr zwischen ihnen gefallen. Sie hatten sich seit jenem Morgen nicht wiedergesehen. Und nun war Königswahl.
»Ravenna«, gurrte Elinor. »Was auch immer dir die Sieben über mich erzählt haben: Schwarze Hexenkunst hat nicht nur mit dem Teufel zu tun. Es ist ein weites Feld, und du hast wirklich Talent. Du könntest viel von mir lernen.«
Elinor streckte die Hand nach ihr aus, die Finger mager wie Klauen. Die Ringe der Burgherrin saßen viel zu locker, und die roten Augen des Raben glitzerten. Unwillkürlich wich Ravenna zurück.
»Danke … aber nein. Ich bin die Tormeisterin. Mit dieser Aufgabe habe ich mehr als genug zu tun. Aber sollte ich Morrigan je im Leben wiedersehen, werde ich ein gutes Wort für dich einlegen. Das verspreche ich. Ich werde ihr sagen, dass du dich verändert hast und ihre Anerkennung verdienst. Genau wie wir alle.«
Die Hexe vom Hœnkungsberg musterte sie. Das Schmunzeln, das sich auf dem hageren Gesicht ausgebreitet hatte, verschwand langsam wieder. »Das ist gut. Sehr gut sogar«, raunte Elinor ihr zu und kraulte das Brustgefieder des weißen Raben. »Deine Worte gefallen mir, denn sie klingen aufrichtig. Ich will nur hoffen, dass du nachher keines von ihnen vergisst. Denn da ist unser verspäteter Gast.«
Elinor deutete auf das Podest in der Mitte des siebenstrahligen Sterns. Eine unscheinbare Fremde kletterte auf die Tribüne. Die Frau sah wie eine Einsiedlerin aus, eine Eremitin aus den Wäldern. Sie stützte sich auf einen Stab aus Erlenholz, an den sie ein unordentliches Bündel geknüpft hatte. Ihre Kleider bestanden aus übereinandergenähten Fell- und Leinenlappen. Die Strähnen ihres eisgrauen Haars waren so ineinandergeflochten, dass eine hohe Turmfrisur entstand. Ihr Atem dampfte, und an den Stellen, an denen sie
Weitere Kostenlose Bücher