Tore der Zeit: Roman (German Edition)
das Geländer berührte, entstand Raureif.
»Morrigan«, hauchte Ravenna. Sie blinzelte, aber die Erscheinung blieb. »Das gibt’s doch nicht. Als ich sie das letzte Mal sah, saß sie im Kerker auf dem Hœnkungsberg fest.«
Elinor schnappte nach Luft. »In meiner Burg? In meiner Burg? Beliar hielt sie in meiner Burg gefangen?«
»Glaub es mir ruhig«, brummte Ravenna. »Es war das einzige Versteck, in dem du niemals nach ihr gesucht hättest. Direkt unter deinen Füßen. Wie gut, dass Beliar jetzt nicht mehr hier ist. Vermutlich konnte sich Morrigan deshalb befreien.«
»Der Teufel ist immer, du Dummchen«, flüsterte Elinor. »So lange der Strom fließt, wird es ihn geben. Er ist der Schatten, den jede Flamme wirft. Der bittere Tropfen im Tee. Die kleinen Bosheiten in einer großen Liebe. Und nun geh!« Die Hexe vom Hœnkungsberg gab ihr einen sanften Stoß. »Geh schon und stell dich in den Kreis! Du dachtest doch wohl nicht, dass ein neuer König gewählt wird, ohne dass sie erscheint.«
Verwirrt trat Ravenna an den Stern. Esmee befand sich zu ihrer Linken, die Heilerin Nevere stand rechts von ihr. Die Ritter hatten jeweils zwei Schritte hinter ihren Gefährtinnen Aufstellung genommen. Sie waren alle einheitlich gekleidet, in Hosen aus weichem, dunklem Stoff, edlen Tuniken und langen, schweren Mänteln. Ihre Stiefel und das Gurtzeug glänzten, die Schwerter ruhten in den Scheiden. Die Männer waren barhäuptig. Nur Marvin hatte an diesem Tag nicht auf die Kappe mit der Fasanenfeder verzichtet. Er stand hinter Nevere und zwinkerte ihr zu.
Ravenna schaute zu der einsamen Wanderin auf dem Podest. Kaum jemand schenkte der Hexengöttin Beachtung. Den meisten Menschen schien Morrigan nicht einmal aufzufallen. Eine ärmliche, ältere Frau, in Lumpen gehüllt. Eine Vagabundin. Dann bemerkte Ravenna Diegos starren Blick.
Er begreift, was er sieht, dachte sie. Er ist eine Lichtseele. Auf alle gewöhnlichen Menschen wirkt Morrigan wie eine Landstreicherin. Aber wer eine Gabe besaß, erkannte, wer sie wirklich war. Eine Wanderin zwischen den Sternen.
Ravenna hörte, wie sich Lucian hinter sie stellte. Nun war die Runde der Hexen und Ritter vollzählig. Morrigan schien es ebenfalls zu bemerken, denn sie lehnte den grauen Stab an die Bande. Bedächtig holte sie einen Gegenstand aus ihrem Bündel und wickelte ihn aus. Es war ein Kelch mit einem achteckigen Fuß. Eine geflügelte Echse schlängelte sich um den Sockel. Mit beiden Händen hob Morrigan die Schale ins Licht.
»Was habe ich dir gesagt? Ein Drache.«
Entrüstet drehte sich Ravenna um, als Lucian ihr diese Worte ins Ohr flüsterte. Seine Augen funkelten.
»Es ist bloß das Abbild eines Drachen«, gab sie zurück. »So was stelle ich dir an einem Abend her, aus einem Stück Speckstein und mit ein bisschen Fantasie. Das zählt nicht.«
»Sieh doch nur, wer den Pokal hält«, murmelte ihr Ritter. »Glaubst du wirklich, es hätte keine Bedeutung?«
Sie warf einen Blick auf den funkelnden Kelch. »Was ist das? So eine Art Gral?«
Lucian schüttelte den Kopf. »Man nennt dieses Gefäß Mare magyca. Angeblich kann man darin die Zukunft sehen.«
»Oh«, machte Ravenna.
Natürlich, dachte sie dann. Niemand anderes als Morrigan würde den neuen König der Hexenritter wählen. Alles andere ergab keinen Sinn. Und es erklärte auch, warum sich sogar Elinor im Hof eines feindlichen Schlosses eingefunden hatte. Die schwarze Hexe hatte gewusst, dass Morrigan nach Carcassonne kommen würde.
Sie kniff die Augen zusammen und beobachtete das Geschehen auf dem Podest im hellen Gegenlicht. Die Hexengöttin hielt die Schale mit geschlossenen Augen über dem Kopf. Alle Gespräche im Innenhof waren inzwischen verstummt. Offenbar hatten auch die Schattenseelen begriffen, dass die seltsame Fremde nicht bloß zufällig auf dem Podest stand. Die Einwohner der Burgstadt, Velascos ehemalige Soldaten, die Hexenritter und die geladenen Gäste – alle blickten zu der Frau im zottigen Fellmantel empor.
Gebannt verfolgte Ravenna, wie die Außenwand des Kelchs beschlug. Nebel wallte aus dem Gefäß. Langsam senkte Morrigan die Arme. Im Gegenlicht sah es aus, als wirbelten Tausende Eiskristalle um ihre Gestalt. Der Strom, dachte Ravenna. Wo sie ist, ist der Strom – nicht umgekehrt.
Morrigan warf einen Blick in den Kelch. Als sie den Kopf hob, lag ihre Stirn in Falten.
»Ramon«, sagte sie.
Der junge Ritter stand Ravenna schräg gegenüber, kehrte ihr seine schöne Seite zu. Sie sah,
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