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Tore der Zeit: Roman (German Edition)

Tore der Zeit: Roman (German Edition)

Titel: Tore der Zeit: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Lea Nicolai
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las er aus einer aufgeschlagenen Handschrift. Anschließend raufte er sich das dunkle Haar. »Was ist das denn für ein Kauderwelsch? Kann mir jemand diesen Blödsinn erklären? Das ist doch verrückt.«
    »Wer hätte gedacht, dass Velasco ein solcher Erbsenzähler ist?«, grinste sein rothaariger Freund. Der Rotschopf hockte auf dem Brunnenrand, ließ die Beine baumeln und rührte keinen Finger. Stattdessen sah er dem Schönling beim Arbeiten zu. Ein großer, ungepflegter Wolfshund lag zu seinen Füßen und nagte an einem Stück Brot. Am Hut des Rothaarigen wippte eine lange Fasanenfeder.
    »Erbsenzähler? Velasco war ein Wahnsinniger«, murrte der Schöne.
    Die Zwirnerin trat an den Tisch und zeigte auf das staubige Säckchen, dem die Nummer zugeordnet war.
    »Gehört dem Glasmaler«, nuschelte sie. Im Lauf der Jahre waren ihr so viele Zähne ausgefallen, dass sie undeutlich sprach. Velascos Schergen hatten während der Verhöre ein Übriges dazu beigetragen. »Is’ Schwarzlot. Der Maler wohnte in der Rue du Fosse, Haus 27. Im Atelier steht ein Schrank, wo er sein’ Sach’ aufbewahrt. Aber seit der Hexer ihm die Tür einschlug und seine Werkstatt verwüstete, isser weg.«
    Der Schöne drehte sich um. Die Zwirnerin zuckte zurück. Eine Gesichtshälfte des jungen Mannes war schrecklich entstellt. Die Knochen unter der Haut waren zermalmt worden und anschließend schief zusammengewachsen. Narbengewebe bedeckte die Augenhöhle. Um das fehlende Auge zu verdecken, ließ sich der Einäugige eine Haarsträhne ins Gesicht fallen.
    »Woher wisst Ihr das?«, fragte er in scharfem Ton. Er musste laut sprechen. Ständig ratterten Fuhrwerke vorbei. Die Wagen hielten neben dem Schloss und wurden entladen. Befehle schallten durch den Innenhof. Der Verwalter trieb die Kutscher zur Eile an, Knappen schleppten Wassereimer und Holzscheite über den Hof. Ein junges Mädchen trug einen riesigen Käseleib an ihnen vorbei. Bei diesem Anblick lief der Zwirnerin das Wasser im Mund zusammen. Im Kerker hatte es bloß Mehlsuppe gegeben.
    Der junge Adlige blickte wieder in das Manuskript. »In der Rue du Fosse sagt Ihr? Dann heißt das hier Atelier, Schrank, Fach Nummer 3? Um Himmels willen! Velasco war wirklich ein kleinkarierter Erbsenzähler.«
    »Umso besser für uns.« Der Rothaarige sprang von der Einfassung des Brunnens und kam an den Tisch. »So können wir wenigstens allen zurückgeben, was der Hexer den Leuten abgenommen hat.« Er schaute die Zwirnerin an. »Und in deinem Fall wäre das?«
    »Meine Garne«, sagte sie und reckte das Kinn. Das machte sie immer, wenn sie mit hohen Herrschaften sprach. Schließlich trugen die Schlossherren die von ihr gewebten Bänder an Kra gen und Hut, und die Frauen machten Haarschmuck daraus. Die beiden Männer am Tisch waren zweifellos von edler Abstammung. Sie trugen Ringe am Finger und Schwerter an der Hüfte. Aber die Zwirnerin würde sich nicht einschüchtern lassen.
    »Außerdem mein Webbrettchen und die Nadeln«, setzte sie hinzu. »Ich bewahr alles in ’nem Korb auf.«
    Der Rothaarige schritt am Tisch entlang und suchte die Stapel ab. Der Einäugige studierte die Eintragungen in dem Buch und verglich sie mit den Wachstafeln neben den Gegenständen. Schließlich fand er einen zugedeckten Korb.
    »Ist es der hier? Bitte sehr«, sagte er und gab ihr ihre Waren zurück. »Falls etwas fehlen sollte, sagt Bescheid. Wir legen Wert darauf, den Schaden, den Velasco angerichtet hat, so schnell wie möglich zu ersetzen.«
    »Und wer ersetzt uns die Muhme?«, murmelte die Zwirnerin düster, während sie ihre Habseligkeiten an sich raffte. »Das vermag niemand.«
    Ein kurzer Blick unter das Tuch verriet ihr, dass ihr Hab und Gut vollständig war. Was sollte Velasco der Hexer auch mit Garnen und halb fertigen Bändern anfangen?
    Der Einäugige musterte sie. »Sprecht Ihr von der Doña de Aragon? Das ist allerdings ein trauriger Verlust. Aber die Verwalterin ist nicht die Einzige, die wir vermissen. Denkt nur an König Constantin! Eine schwere Zeit liegt hinter uns. Jetzt müssen wir nach vorne schauen. Der Aufstand ist vorbei, die Festung wurde befreit. Wenn alles gut geht, werden die Barone und Grafen heute einem neuen König die Treue schwören.«
    »Ein neuer König? Was kümmert’s mich?«, murrte die Zwirnerin. »Für mich is’ ein Herr genau wie der andere.«
    Der Rothaarige grinste vergnügt und zeigte mit dem Daumen auf den Einäugigen. »Was hältst du von dem hier, gute Frau? Mein Freund hat

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