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Tore der Zeit: Roman (German Edition)

Tore der Zeit: Roman (German Edition)

Titel: Tore der Zeit: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Lea Nicolai
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gute Aussichten darauf, heute Morrigans Segen zu empfangen. Darf ich vorstellen? Ramon aus Marseille. Sein Vater fuhr zur See und war, wie man hört, an Land ständig betrunken. Deshalb verließ Ramon sein Heim sehr früh und schlug sich auf eigene Faust zum Berg der Hexen durch. Es heißt, er habe in jeder Stadt eine andere Herzensdame, von der Norani besser nie etwas erfährt.«
    »Halt die Klappe, Marvin«, murmelte der Einäugige. Seine Narbe leuchtete so rot wie die Waffenröcke der Ehrengarde am Torhaus. »Sonst überlege ich mir nämlich, ob ich gleich als erste Amtshandlung aus dem Späher des Königs einen königlichen Stallknecht mache. Falls die Wahl überhaupt auf mich fällt.«
    Der Rothaarige tippte sich an den Hut und vollführte eine spöttische Verbeugung. In diesem Augenblick begannen alle Glocken zu läuten. Junge Männer und Frauen in langen, flatternden Gewändern traten auf die Zinnen. Sie hielten brennende Fackeln in den Händen. Überall auf den Wehrgängen, Türmen und auf der großen Doppelmauer erschienen sie und warteten in der Sonne. Beim zwölften Glockenschlag streckten sie den Arm und hielten die Fackeln an das Krähenbanner, das von den Fahnenstangen wehte.
    Mit angehaltenem Atem verfolgte die Garnzwirnerin, wie die bestickten Ränder Feuer fingen. Rauch kräuselte sich und stieg in die Luft. Flammen leckten über die Krallen und den stählernen Schnabel der Krähe. Glimmende Ränder fraßen sich in das Wappen, bis von Velascos Banner nichts weiter als Aschefetzen übrig waren. Der Wind trug sie über die Mauer und wehte sie in den Fluss.
    »Den restlichen Krempel des Hexers hat man im Zwinger aufgeschichtet und mit Öl übergossen.« Der Einäugige zeigte auf schwarze Rauchwolken, die jenseits der Mauer aufstiegen. »Lauter schwarzmagisches Zeug. So etwas wird es hier nie wieder geben. Dafür garantiert der neue König, gute Frau, ganz egal, wer es sein wird.«
    Der junge Herr hatte zu ihr gesprochen, stellte die Zwirnerin fest. Bestimmt hatte sich der Rothaarige einen Scherz erlaubt, als er behauptete, der Schönling mit dem halben Gesicht solle an diesem Tag die Krone des Hexenreichs erhalten. Zukünftige Könige redeten normalerweise nicht mit einer Frau ihres Schlags.
    »So was soll’s nie wieder geben«, bekräftigte sie und klopfte fünfmal auf Holz. So machten es alle Hexen, wenn sie sicherstellen wollten, dass ein Wunsch in Erfüllung ging. Nur ein geübtes Auge erkannte den Fünfzackstern, den ihre Hand in Windeseile beschrieb. Zuletzt ergriff sie die Finger des Einäugigen und drückte einen Kuss auf den Ring. Überrascht schaute er sie an.
    »Bendicco!« , stieß sie hervor. »Gesegnet sei der junge Herr! Für den Fall, dass mich Euer Freund nicht auf den Arm genommen hat und Ihr tatsächlich unser neuer König seid.«
    Im zweiten Stock des Schlosses stand ein Fenster offen. Warmes Sonnenlicht flutete in den Raum und streifte über die beiden Schlafenden. Das Bett stand in einer erhöhten Nische. Die Vorhänge waren mit dicken, roten Kordeln zurückgebunden. Ein Kissen lag auf dem Boden, die anderen waren am Fußende verstreut. Kleider hingen über dem Stuhl neben dem Kamin. Zwei Paar Stiefel standen neben der Tür, und auf dem Tisch türmten sich benutztes Geschirr und eine Weinkaraffe.
    Die Schlafenden ließen sich durch den Lärm im Hof nicht stören. Weiches Licht glitt über Ravennas Schultern und Brüste. Im Tal ihrer Taille herrschte sanfter Schatten. Das weiße Laken bedeckte ihre Hüfte nur knapp. Lucian lag neben ihr auf der Seite, das Gesicht in der Armbeuge vergraben. Er schlief wie ein Toter.
    Als der letzte Glockenschlag verklungen war, streckte sie die Hand aus und tastete nach seiner Schulter. »Zwölf«, murmelte sie. »Ich habe mitgezählt. Zwölf Glockenschläge. Das bedeutet, es ist schon Mittag. Wir können nicht ewig im Bett bleiben. Ich fürchte, wir müssen aufstehen.«
    Lucian rührte sich nicht. Offenbar war er nach der Aufregung der letzten Wochen völlig erledigt. Oder waren es Monate gewesen? Ganze Jahrhunderte?
    Ravenna seufzte. Sie waren in letzter Zeit so oft durch ein Tor getreten, dass sie sich manchmal umschaute und nicht wusste, wo sie war. In den vergangenen Wochen hatten sie und Lucian dafür gesorgt, dass alle Beteiligten wieder in ihr jeweiliges Zeitalter zurückfanden – auch ihr Filmteam, das nach dem Zusammenbruch des Tors im Mittelalter zurückgeblieben war. Sie hatte die Ordnung der verschiedenen Zeitstränge

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