Tore der Zeit: Roman (German Edition)
beide jetzt ins Hotel zurückkehren. Dort beobachtet uns niemand. Ich muss dir nämlich dringend etwas erzählen.«
Die Jahrhundertwette
Carcassonne im Februar 1254
Es bedurfte keines großen Aufwands, um die Bevölkerung der mittelalterlichen Stadt Carcassonne in Angst und Schrecken zu versetzen. Es genügte völlig, dass der Eroberer, der die Festung im Handstreich eingenommen hatte, befahl, zu seiner Begrüßung solle im Innenhof des Schlosses ein öffentliches Spektakulum abgehalten werden. Jedem Einwohner, der an diesem Tag zu Hause blieb, drohte der Tod durch Erhängen.
Am Morgen des Festtags hing das Unheil wie Rauch über der Festung. Von den Bergen rollten dunkle Wolken heran, und ein scharfer Wind pfiff durch die Gassen.
Dennoch legten alle Bewohner von Carcassonne festliche Kleidung an. Sie zogen ihre besten Kittel und Wämser an und setzten Hüte auf. Die Frauen drehten das Haar zu Kränzen und steckten Blumen und Schleier fest. Dann legten sie den Schmuck an, den sie auch an ihrem Hochzeitstag getragen hatten. Als sie anschließend aus dem Haus traten, hatten sich die Straßen von Carcassonne bereits mit Menschen gefüllt.
Eine schweigende Prozession zog in Richtung Schloss. Niemand sprach oder scherzte mit dem Nebenmann. Die Men schen gingen schweigend unter dem wolkenverhangenen Him mel dahin, und in jeder Gasse, an jeder Kreuzung und auf jedem Platz wurden es mehr. Aus Angst vor der angedrohten Strafe blieben nicht einmal Kranke oder Säuglinge daheim. Sie wurden von ihren Familien in gepolsterten Körben oder auf Tragen vor das Tor des Schlosses geschleppt.
»Singt!«, brüllte einer der schwarz gekleideten Soldaten des Eroberers. Vom Sattel aus schwang er die Peitsche über die gesenkten Köpfe. »Singt und seid fröhlich, so wie es sich gehört, wenn ihr vor euren neuen Herrn tretet!«
Hastig griff der Geiger nach seinem Instrument. Von der hohen Saite stieg ein einzelner Ton auf, verwackelt und schrecklich. Sänger erhoben ihre Stimmen, begleitet von Glockenspielen, Trommeln und dem Jaulen der Hunde. Sie gaben sich die größte Mühe, damit sich ihre Lieder fröhlich anhörten. Doch es klang wie Grabgesang.
Gaukler auf Stelzen liefen der Menge voraus. Handwerksmeister schritten neben Lehrlingen, Kaufleute gingen neben Leibeigenen, Bäuerinnen neben Freifrauen. Fremde Adlige ritten auf edlen, spanischen Pferden durch die Gassen, und die Hebamme hatte verkündet, dass keine werdende Mutter an diesem Tag niederkommen solle. Denn eine Geburt während des Spektakulums bedeute ein schlechtes Omen.
Singend und tanzend versammelte sich die Menge vor der Barbakane. Die Torburg wurde von den Söldnern des Eroberers bewacht: von Männern in bodenlangen, schwarzen Gewändern, die offenbar weder Beinschienen noch Plattenrüstungen brauchten, um sich zu verteidigen. Ihre einzige Bewaffnung bestand aus Messingstäben, die von der Schulter bis zum Boden reichten. Auf der Spitze jedes Stabs steckte ein umgedrehtes Pentagramm. Mit anderen Worten: Die neuen Herren von Carcassonne waren Schwarzmagier.
Die Frauen trällerten aus voller Kehle und ließen die Röcke über den vereisten Boden schwingen. Innerlich wünschten sie die Eroberer jedoch zum Teufel. Fast achtzehn Jahre lang hatte die weise Doña de Aragon über die Festung geherrscht, eine sarazenische Adlige und Zauberin, die mit Umsicht und Güte regierte. Die Stadt stand in voller Blüte. Während der Herrschaft der Doña war Carcassonne zu Wohlstand gelangt. Kaum noch jemand musste Hunger leiden, es gab weniger Krankheiten, und an Markttagen herrschte reger Verkehr innerhalb des doppelten Mauerrings.
Ausgerechnet zu diesem Zeitpunkt war der totgeglaubte Herrscher zurückgekehrt. Binnen einer Nacht hatte er die Burgstadt zurückerobert, und es hieß, er werde von einer Hexe begleitet, so jung und furchterregend schön, dass das Paar zusammen Himmel und Hölle in Bewegung setzen konnte.
Die Wächter am Tor ließen den Festzug mit ausdruckslosen Mienen passieren. Kein einziges Wort fiel. Diejenigen, die den Innenhof bereits betreten hatten, versammelten sich hinter der Absperrung. Die anderen schritten nach und nach durch das Torhaus. Ein neues und zugleich altbekanntes Banner wehte von den Balkonen, Türmen und Zinnen. Es zeigte eine Krähe mit stählernem Schnabel auf silbergrauem Hintergrund. Der Vogel hielt einen Fingerknochen im Schnabel, an dem der Ring des Königs steckte.
Bei diesem Anblick formten die Frauen ein magisches
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