Tore der Zeit: Roman (German Edition)
Ein Zigeunermädchen mit langen Zöpfen schlug ein Tamburin. Der maurische Schwertschlucker bog seinen Kopf nach hinten und schob sich langsam eine ellenlange Klinge in den Rachen. Immer wieder flogen Fäuste oder Hüte in die Luft. » Maledicco !«, brüllte die Menge.
Der Hexer stieß ein kurzes, hartes Lachen hervor. »Warum begreifen sie es nicht? Was könnte toter sein als eine Leiche, die bereits auf dem Richtblock lag?«
»Nichts«, bemerkte Yvonne trocken. »Aber woher sollen sie wissen, dass dir ihre Flüche nichts anhaben können?«
Der Hexer warf ihr einen finsteren Blick zu. »Du hast gut lachen. Aber ich rate dir, dein loses Mundwerk im Zaum zu halten, Yvonne. Deine Schönheit und Jugend verschaffen dir zurzeit vielleicht einen Vorteil. Unersetzlich bist du jedoch nicht.«
Yvonne lächelte dünn. Sie war bereits daran gewöhnt, dass Velasco im Gespräch beiläufig Drohungen fallen ließ und die Leute in seiner Umgebung einschüchterte. Ihr war nicht ganz klar, ob er es aus Boshaftigkeit oder aus Langeweile tat. Jedenfalls war die Angewohnheit lästig.
»Nun, ich denke, im Augenblick kannst du nicht auf mich verzichten«, entgegnete sie mit einem giftigen Unterton. Mit diesen Worten strich sie über ihren Bauch, der sich deutlich unter dem Kleid wölbte. Achselzuckend drehte sich der Hexer um und starrte wieder auf den Platz vor der Barbakane.
Yvonne verkniff sich eine Verwünschung. Velasco wusste genau, wie sehr ihr die Schwangerschaft zusetzte. Manchmal hatte sie Krämpfe und spürte ein Ziehen im Unterleib. Dabei hatte sie dieses Kind nicht einmal gewollt. Doch der Schlossherr nahm keine Rücksicht auf sie. Stattdessen zwang er sie, an dem schwachsinnigen Spektakel teilzunehmen – er hatte es sogar ihretwegen befohlen. Um sie aufzuheitern, weil ihm ihre anhaltend schlechte Laune auf die Nerven fiel.
Bei diesem Gedanken musste sich Yvonne ein Lächeln verkneifen. Beachtlich, dass ausgerechnet sie die Gabe besaß, Velasco den Hexer, den Teufelsbeschwörer von Carcassonne, aus der Fassung zu bringen. Es gab nicht viele Menschen, denen es vergönnt war, Lucians Vater ungeschoren in Rage zu versetzen.
Vermutlich lag es an ihrem Zustand. Sie seufzte. Seit Velasco erfahren hatte, dass sie schwanger war, bewachte er sie mit krankhaftem Argwohn. Er ließ keine fremde Frau in ihre Nähe – nicht einmal eine Hebamme, aus Furcht, es könnte sich um eine Hexe handeln.
Yvonne schaute wieder aus dem Fenster. Die Fläche rings um die Torburg und die angrenzenden Straßen wimmelten von Menschen, und aus der Stadt drängten sich noch mehr Einwohner heran. Die Leute feierten ausgelassen, wie es ihnen befohlen worden war. Sie feuerten die Mannschaften beim Tauziehen an oder lachten über die Verlierer des Eselrennens, das einmal rings um die Doppelmauer des Zwingers führte.
»Jemand soll dem Pöbel Beine machen«, befahl Velasco. »Ich möchte pünktlich anfangen.«
Bewegung kam in die stummen Diener im Hintergrund. Vom Fenster aus sah Yvonne zu, wie die Wächter die letzten Nachzügler mit Knüppelhieben durch das Tor trieben. Sie zuckte bei jedem Treffer zusammen. Wie ein Stromschlag fühlte es sich an, wenn man den magisch aufgeladenen Stäben der Schwarzmagier zu nahe kam. Sobald die Zuschauer versammelt waren, zogen die Wachen das Tor der Vorburg zu.
»Gehen wir!«, befahl Velasco knapp. »Jemand soll die Fürstin Oriana rufen.«
Yvonne erhob sich von der Bank. Als sie sich aufrichtete, fuhr ihr ein stechender Schmerz durch das Becken. Ächzend krümmte sie sich nach vorn.
Das also war das Ergebnis einer einzigen, sorglosen Nacht. Dabei hatte sie nur ein bisschen von den verbotenen Früchten naschen wollen, die rein zufällig in ihrer Reichweite hingen. Wirklich nur eine einzige Kostprobe – denn der Kindsvater war nicht gerade jemand, mit dem sie sich eine längere Beziehung vorstellen konnte. Im Gegenteil: Mit seiner ständigen Besserwisserei und seinem mahnend erhobenen Zeigefinger war ihr Lucian ganz gehörig auf die Nerven gefallen.
»Bist du sicher, dass du dir das Spektakel von der Terrasse aus ansehen willst?«, erkundigte sich Velasco. »Willst du nicht lieber hier im Warmen sitzen bleiben und die Vorführungen vom Erker aus betrachten?«
Geräuschlos war er neben sie getreten. Doch statt ihr eine helfende Hand zu reichen, musterte er sie mit verschränkten Armen. Als wäre ich eine kranke Kuh, dachte Yvonne wütend.
»Mir geht’s gut!«, stieß sie hervor, während sie sich an die
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