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Tore der Zeit: Roman (German Edition)

Tore der Zeit: Roman (German Edition)

Titel: Tore der Zeit: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Lea Nicolai
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Schutzzeichen und flehten die Hexengöttin Morrigan im Stillen an, sie möge sie und ihre Kinder behüten. Die Männer ballten hilflos die Fäuste.
    »Wir woll’n sie seh’n«, fuhr die Garnzwirnerin einen der stummen Wächter an, als sie ans Tor trat. Sie war eine Frau von schlichter Herkunft und ebenso schlichtem Gemüt. Später sollten sie und ihre Freundinnen allen Leuten erzählen, mit welch eisigem Blick die Torwachen sie gemustert hätten.
    »Als wär’n wir keine Menschen«, berichtete die Zwirnerin, »sondern bloß Vieh, das reif zum Schlachten is’.«
    Aber sie war keine Frau, die sich so leicht einschüchtern ließ. »Wir woll’n sie seh’n«, wiederholte sie. »Der neue Herr hat unsere Muhme in den Kerker geworfen. Wir woll’n sichergehen, dass die Doña noch lebt. Sonst tanzen wir nicht für ihn. Auf dass es ihm wohlbekomme, maledicco !«
    Der vorderste Hexer lächelte kalt. Er gab seinen Gefährten ein Zeichen. Daraufhin ließen sie ihre Messingstäbe auf den Boden sausen. Ein heller Klang ertönte, und zwischen den Stäben entstanden knisternde Lichtbogen. Sie kreuzten sich unter dem Torhaus wie Laubkränze beim Reigen und tauchten das Gewölbe in ein fahles Licht.
    Die Garnzwirnerin und ihre Freundinnen wichen zurück.
    »Ihr werdet gleich jetzt und hier für uns tanzen«, knurrte der Wächter. »Oder ihr werdet aufgehängt.«
    Einmütig erklärten die Frauen, sie wären auf der Stelle davongerannt, wenn sich hinter ihnen nicht die Stadtbewohner gedrängt hätten. Die Hebamme musste sich sogar gegen den Torpfosten stemmen, sonst hätte die Menge sie in das blaue Knistern hineingedrückt, und – das schwor sie beim Namen Morrigans – die magische Flamme hätte sie verzehrt.
    »Wir wollen die Doña sehen!«, rief nun auch die Kerzenzieherin. »Wenigstens einen Blick muss Velasco die Krähe uns gewähren, maledicco !«
    Der Ruf wurde von mehreren Lehrlingen und Handwerksburschen aufgenommen. Die Umstehenden reckten die Fäuste und brüllten ihren Zorn über die Köpfe der Menge hinweg. Von hinten sah man mit Girlanden geschmückte Fuhrwerke auf den Platz vor der Barbakane rollen. Sie hatten lediglich Weinfässer, Eisenkörbe und Zunder, Brennholz und Grillspieße geladen. Doch die Menge schwankte bei ihrem Anblick vor Furcht, als handle es sich um das Gerüst eines Scheiterhaufens.
    Die vier Frauen am Tor bekamen es mit der Angst zu tun. Immer stärker drängte sich die Menge heran, sodass die Garnzwirnerin keine Luft mehr bekam und die Frau des Sattelmachers in den Graben rutschte. Immer lauter hallte der Ruf der Menge und endete jedes Mal in einem gebrüllten Fluch.
    »Maledicco!«
    Selbst unter jenen, die mit Magie nichts am Hut hatten und Zauberei für Einbildung hielten, hatte sich herumgesprochen, dass es sich bei dem neuen Burgherrn um einen untoten Hexer handle – um einen Mann, der bei Vollmond gern mit dem eigenen Kopf unter dem Arm an den Zinnen entlangspazierte. Rasend schnell breiteten sich solche Gerüchte in den Schänken und Zunftstuben aus. Vor langer Zeit hatte eben jener Schlossherr den ganzen Landstrich beherrscht und die Menschen wie Vieh geknechtet.
    Und nun war Velasco die Krähe zurückgekehrt, knapp achtzehn Jahre nach seiner Hinrichtung.
    Im ersten Stock des Schlosses zog der Mann, dessentwegen die ganze Stadt in Aufruhr war, den Vorhang ein Stück zur Seite. Missmutig warfVelasco einen Blick auf die Menge. Sein Mund bewegte sich stumm. Die Lippen waren von einem schwarzen Bart umrahmt, so dünn wie ein Messerrücken. Der Schlossherr war auch ganz in Schwarz gekleidet, von den Stiefeln mit den umgeschlagenen Schäften über die langen Handschuhe bis zum hochgeschlossenen Kragen, der die lange Narbe an seinem Hals verbarg. Eine goldene Kette fiel über seine Brust, an der ein kunstvoll eingefasster Kristall hing. Der Stein trug einen Namen – Terra magyca – und war so mächtig, dass er Velasco Gewalt über Erde und Felsen verlieh.
    Er sieht verdammt gut aus, dachte Yvonne. Genau wie sein Sohn.
    Sie saß in der Fensternische, der Hexer stand bei ihr. Gemeinsam schauten sie auf die unruhige Menge herunter.
    »Hörst du, was sie rufen?«, fragte Velasco schließlich. » Maledicco . Sei verflucht. Diese Idioten glauben doch tatsächlich, sie könnten mich verwünschen.«
    Angewidert blickte er auf die Menschenmenge, die sich im Innenhof drängte. Jongleure hatten Fackeln und Seile angezündet und ließen die brennenden Schnüre durch die Luft wirbeln. Rauch wölkte auf.

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