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Tore der Zeit: Roman (German Edition)

Tore der Zeit: Roman (German Edition)

Titel: Tore der Zeit: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Lea Nicolai
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geschnitzte Lehne klammerte.
    »Ich frage das nicht deinetwegen. Also spiel’ nicht die Heldin«, knurrte sie der Hexer an. »Wichtig ist nur, dass dem Kind nichts passiert.«
    Spöttisch spitzte Yvonne die Lippen. »Dachte ich mir schon«, erwidert sie. »Aber als besorgter Großvater eignest du dich nicht besonders. Dann schon eher als Kinderschreck. Du weißt schon: Wer hat Angst vorm Schwarzen Mann?«
    Velasco strich sich über den dünnen Bart. Einen Augenblick lang dachte sie, er würde sie schlagen. Dann grinste er. Das Lächeln war umso furchteinflößender, weil es ihn attraktiv machte. Ziemlich attraktiv sogar.
    »Gut«, murmelte er. »Das ist gut. Wer fürchtet den schwarzen Mann? Das gefällt mir. Komm jetzt, Yvonne! Wir sollten dafür sorgen, dass am Ende dieses Tages alle Anwesenden gelernt haben, was Furcht bedeutet.«
    Er klatschte in die Hände. »Kammerherr!«, rief er. Ein Diener eilte herbei. »Bereitet die Fürstin des Feuers für das Spektakulum vor! Rasch, denn wir fangen an!«
    Yvonne keuchte und richtete sich auf. Wenn sie sich behutsam bewegte, tat es weniger weh.
    Die unerwünschte Schwangerschaft war weit fortgeschritten. Anfangs hatte sie versucht, das Kind zu verlieren. Aber ihr ganzes Hexenwissen hatte nicht geholfen – weder Kräutertinkturen noch heiße Sitzbäder oder Sprüche. Dann war Velasco ihr auf die Schliche gekommen. Seitdem beobachtete er sie voller Argwohn und sorgte dafür, dass das Baby ungestört heranreifen konnte.
    Vielleicht ahnte er, dass es nicht mehr lange dauern konnte, bis das Kind zur Welt kam. Heimlich wandte Yvonne ihre Zauberkünste an, um den Geburtstermin hinauszuschieben. Sie wollte das Baby nicht ohne medizinische Hilfe bekommen – möglichst in einer Klinik des einundzwanzigsten Jahrhunderts. Erst war es um einen Tag gegangen, dann um zwei oder drei. Mittlerweile hatte sie aufgehört zu zählen.
    Sie strich sich das Haar hinter die Ohren und wartete, bis ihr der Kammerherr ein schweres Cape um die Schultern legte. Es war aus Brokat. Die Ränder waren mit einer goldenen Borte gesäumt, an der kleine, magische Flämmchen auf und ab liefen. Der Umhang war weit genug, um ihren Zustand zu verbergen. Ihr Haar war kunstvoll hochgesteckt, und an ihren Ohrläppchen baumelten winzige Granatsteine. Aus den Händen des Kammerherrn nahm sie zuletzt das Zepter der Feuerkönigin entgegen, Ardor magyca genannt. Sie hängte den Elfenbeinstab an ihren Gürtel.
    Dann folgte sie dem alten und neuen Schlossherrn von Carcassonne zur Tür. Velasco durchquerte den Flur mit schnellen Schritten, ein Mann, der dauernd in Eile war und weder Verzögerungen noch Widerspruch duldete.
    »Wo bleibt Oriana?«, brüllte er an der Treppe, die ins Erdgeschoss führte.
    Die Fürstin der Luft war noch nicht erschienen. Jeder in dem langen Gang, ob Diener oder Edelmann, zuckte zusammen. »Jemand soll sie holen!«, bellte der Hexer.
    »Ich geh’ schon«, murmelte Yvonne. Sie raffte den Umhang um sich. Im Flur war es beinahe so kalt wie im Freien. Die Luft roch schwach nach Rauch, der aus den Kaminen des Schlosses stieg. Sie schauderte. Wie ungemütlich das Mittelalter war, merkte man erst im Winter, wenn es durch alle Ritzen zog und das Feuer die einzige Wärmequelle war. Am meisten plagten sie jedoch die buckligen, mit Wolle und Pferdehaar gestopften Matratzen. Die ganze Nacht lang blieben sie klamm und kratzig. Yvonne ließ sich jeden Abend eine andere Unterlage bringen und hatte vermutlich bald alle Schlafstätten des Schlosses durchprobiert, ohne angemessenes Bettzeug zu finden.
    Am Ende des Gangs hämmerte sie gegen eine Tür. »Oriana! Bist du so weit?«
    Eine leidende Stimme antwortete ihr. Ein Riegel wurde zurückgezogen, und eine junge Frau spähte aus der Kammer. Ihr sichtbares Auge war stark geschminkt, das andere wurde von der Tür verdeckt. Oriana hatte die Lippen mit schwarzer Farbe nachgezogen, was die ungesunde Blässe ihres Gesichts noch unterstrich. Um ihren Hals hing ein umgedrehtes Henkelkreuz. Über einem Stuhl lag ein Umhang aus Rabenfedern.
    »Geh schon vor. Ich komme gleich«, flüsterte sie.
    Yvonne rümpfte die Nase. Die kleine Satanistin machte den Eindruck, als habe sie sich gerade übergeben. Ihre Lippen waren rissig, und sie blinzelte oft, wodurch ihre Schminke verwischte.
    Offenbar bekam Oriana die Zeitreise ins Mittelalter nicht sonderlich. Sie war eine minder begabte Zauberin aus dem einundzwanzigsten Jahrhundert und das schwächste Mitglied in ihrem Kreis.

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