Tore der Zeit: Roman (German Edition)
lag schwer auf ihren Schultern. Der Wind nahm zu und ließ die Krähenbanner flattern. Den Frauen wehte es ihre Haarsträhnen ins Gesicht, während der fahle Schein des Wetterleuchtens die Gesichtszüge der Männer erhellte. Erinnerungen kamen in Yvonne hoch, Fetzen eines gespenstischen Traums, und sie wusste, sie sollte Angst empfinden.
Rasch berührte sie Ardor magyca – den Stab aus Elfenbein, der an ihrem Gürtel hing. Das Zepter der Feuerfürstin. Das tat sie immer, wenn ihr Zweifel kamen. Eine Woge der Kraft ging von dem Zepter aus und übertrug sich auf sie.
Erst fühlte sie sich wie betäubt. Dann, nach ein paar Herzschlägen, veränderte sich alles. Sie schwebte. Formen und Farben strömten wie bunte Wellen auf sie ein. Es war, als lache sie aus voller Kehle. Das Hochgefühl verklang nur langsam. Und sie konnte es einfach erneut aufleben lassen, indem sie den Elfenbeinstab abermals berührte. Nach einer Weile fand sie heraus, was den Glückszustand verursachte: Zum ersten Mal in ihrem Leben besaß sie Macht.
Oriana war ihr gefolgt. Die Satanistin zog ihren Dolch und richtete die dreieckige Klinge vor sich aus. Ihr Handgelenk zitterte, als sie flüsterte: »Aura magyca.«
Velasco fügte den Kristall hinzu, begleitet von einer ähnlichen Beschwörungsformel. Zuletzt nahm Yvonne den Elfenbeinstab und spannte ihn über ihrem Kopf zu einem Bogen. Sie spürte, wie sich die Haare in ihrem Nacken sträubten, und atmete ein paarmal ein und aus. Als sie die Spitze des Zepters aus ihren Händen schnellen ließ, entstand eine kleine, weißrote Flamme. Sie verschmolz mit den Blitzen am Horizont. Gleichzeitig ging ein durchdringendes Sirren von dem Stab aus.
Die Leute schrien auf und wichen vor ihr zurück. Auch Yvonne hätte am liebsten geschrien, als der magische Strom plötzlich in das Zepter fuhr. Ihr Arm schmerzte und wurde kalt. Mit Gewalt befahl sie der Luft sich zu öffnen, erzwang einen Spalt im Hier und Jetzt. Es war eine hässliche Krümmung des Lichts, eine Erscheinung, als habe das Universum einen Riss bekommen. In dem Riss steigen Blasen auf. Sie schillerten in Farben, die falsch wirkten.
Das braune Pferd tänzelte nervös. »Seht ihr das?«, brüllte Velasco. »Schaut genau hin! Das ist die Gabe, über welche die fremde Hexe gebietet. Ravenna ist eine Tormeisterin. Sie wäre imstande, das Tor zur Hölle aufzustoßen und diese Welt in den Abgrund zu reißen. Auf diese Kraft setzt Beliar. Mein alter Freund hat gewettet, dass Ravenna und mein Sohn das Duell gewinnen werden.«
Yvonne ächzte. Ihr verschwamm alles vor den Augen, und ihre Flanke wurde taub, als der Strom gegen seinen Willen in eine andere Bahn gelenkt wurde. Sie spürte, dass sie die Kontrolle über das Tor verlor. Dennoch konnte sie den Blick nicht von den quirlenden, chaotischen Formen abwenden, die in dem Spalt aufstiegen. Strudel aus schwarzem Licht. Fraktale. Mathematischer Wahnsinn. Ein geöffnetes Tor besaß eine Anziehungskraft, die dem gesunden Menschenverstand zusetzte.
»Ich wette dagegen«, verkündete Velasco. »Wir werden nicht zulassen, dass Ravenna und Lucian diese Macht benutzen. Und damit ich am Ende Recht behalte, setze ich ein Kopfgeld auf die beiden aus. Wem es gelingt, meinen Sohn und seine Hexe gefangen zu nehmen, der soll bis ans Ende seiner Tage ein sorgenfreies Leben führen. Er wird fürstlich entlohnt, erhält einen Freibrief und darf die Stadt verlassen – die Stadt und das ganze Reich. Alle anderen bleiben hier und werden so lange tanzen, jonglieren und Schweine braten, bis ich des Schauspiels überdrüssig bin. Allerdings …«
Rasch hob Velasco die Hand, um den bestürzt raunenden Menschen Einhalt zu gebieten. »Allerdings ist Beliar nicht dumm. Er wird seinerseits alles tun, um Lucian und Ravenna im Spiel zu halten. Bestimmt wird er euch eine stattliche Summe bieten, damit ihr sie laufen lasst. Doch ganz egal, was er euch bietet: Ich zahle das Doppelte! Hauptsache, ihr schafft meinen Sohn und seine Hexe her!«
Velasco wandte sich zum Gehen. Mit einem Stöhnen zog Yvonne den Arm zurück. Kälte breitete sich bis zu ihrem Herzen aus. Das Funkeln, das an dem Stab Ardor magyca auf und ab raste, erlosch. Das Tor mit seinem krankhaften Zauberfeuer würde jedoch noch eine Weile bestehen bleiben. Nachdem ein Durchgang zum Öffnen gezwungen worden war, dauerte es eine Weile, ehe sich der Spalt wieder schloss.
»Ich will nur hoffen, dass meiner Schwester bei dieser Wette nichts passiert«, stieß sie hervor,
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