Tore der Zeit: Roman (German Edition)
führte ein Treppenschacht nach oben. Der Dienstbotenaufgang.
Sie wollte nach unten laufen, aber Lucian hielt sie fest. Aus dem Untergeschoss drangen Stimmen.
»Hoch!«, zischte ihr Ritter. Er begann zu laufen.
Als sie das nächste Stockwerk erreichten, keuchte Ravenna heftig. Lucian stieß die Tür auf und zog sie in den Flur. Er war pompös in Rot und Gold ausgestattet.
»Irgendwo müssen sie doch sein! Die lösen sich nicht einfach in Luft auf.« Ravennas Herz überschlug sich beinahe, als sie die Stimme hörte. Der russische Akzent war unverkennbar, ebenso Vadyms schnarrende Aussprache.
Sie saßen in der Falle – zwischen den Schwarzmagiern in der Lobby und den Hexern im dritten Stock. Da fiel ihr Blick auf eine Zimmertür. Suite 313. Das Zimmer der alten Dame.
Ravenna stürzte zu der Tür, hakte die dicke, rote Kordel aus und trat ein, ohne anzuklopfen. Sie zog Lucian hinter sich her. Dann legte sie die Kordel wieder vor und schloss die Tür.
Atemlos schaute sie sich in der Suite um. Alles war in rosafarbenen Tönen gehalten, sogar der Teppich, die Vorhänge und die Bettwäsche. Der Mops lag auf der Tagesdecke und knurrte sie an, ein weicher, drohender Laut, der sich mit Philippes Schnarchen mischte. Lang ausgestreckt lag er neben dem Hund.
Ravenna trat ans Bett und rüttelte den Empfangschef am Arm. »Philippe!«
Seine vornehme Uniformjacke mit den zwei gekreuzten Schlüsseln auf dem Kragen hing über dem Bettpfosten. Nach Dienstschluss hatte er den Schlips abgenommen und die Hemdsärmel hochgekrempelt. Auf dem Nachttisch standenzwei benutzteGläser sowie eine halbleere Flasche Wermut, ein Anblick, bei dem Ravenna fast gelacht hätte, wäre sie nicht gerade total panisch gewesen.
»Philippe! Um Himmels willen, wachen Sie auf! Ihr Hotel wird gerade überfallen.«
Auf dem Flur waren hektische Schritte zu hören. Eine Tür wurde aufgerissen – zum Glück nicht die Tür von Zimmer 313. Offenbar durchsuchten die Russen gerade die anderen Suiten. Lucian untersuchte die Verriegelung des Fensters, begleitet vom Geknurre des Mops. Der Hund richtete sich auf und starrte den Ritter feindselig an.
»Philippe, Herrgott noch mal!« Aber der Concierge wurde auch dann nicht wach, als Ravenna ihn heftig rüttelte. Der Mops fletschte die Zähne.
»Komm schon«, zischte Lucian. »Den kriegst du nicht wach. Wir klettern über den Balkon und dann hinunter in den Garten.«
Ravennas Magen zog sich zusammen. »Die Suite liegt im dritten Stock«, merkte sie an. »Ich weiß nicht, ob das mit dem Klettern so einfach wird.«
Aber Lucian achtete nicht auf ihren Einwand. Er setzte die Schwertspitze unter dem Türgriff an, benutzte die Klinge als Hebel und sprengte die Verriegelung auf.
Sofort heulte die Alarmanlage los. An der Außenwand des Hotels blitzten rote Lampen, und im Gang vor der Suite herrschte eine Schrecksekunde lang Totenstille.
»Da lang!«, brüllte Vadym dann – so laut, dass Ravenna trotz der geschlossenen Zimmertür jedes Wort verstand. »Da vorne müssen sie sein.«
Sie stürzte auf den Balkon. Lucian streifte die Schwertscheide ein Stück nach hinten und schwang sich rittlings aufs Geländer. Als sie ins Zimmer zurückblickte, sah sie, wie Philippe sich endlich hochrappelte, viel zu schlaftrunken und verkatert, um den Ernst der Lage zu begreifen. Als Erstes brüllte er den Mops an, der wie irr geworden durch das Zimmer raste und im Duett mit der Sirene heulte.
Hastig zerrte sich Ravenna die Kapuze des Hexenmantels über den Kopf und zog sie tief in die Stirn. Wenn Vadym und seine Freunde Philippe später verhörten, sollte er reinen Gewissens die Wahrheit beschwören: dass er lediglich den Geist der alten Dame aus Zimmer 313 auf dem Balkon gesehen hatte.
Ihr Mantel bauschte sich im Wind, als sie das Bein über die Brüstung schwang. Ein Stück unter ihr hangelte sich Lucian bereits mit geschmeidigen, flinken Bewegungen die Fassade entlang und offenbarte ein neues, ungeahntes Talent: die Geschicklichkeit eines geübten Bergsteigers.
Ravenna holte tief Luft. Lichter glitzerten schwach auf dem Fluss, und hoch oben über der Stadt an der Seine stand ein dünner Mond, scharf und gekrümmt wie die Sichel eines Druiden. Dann packte sie das Regenrohr und ließ sich in die Tiefe gleiten.
Kurz darauf rannten sie durch den nächtlichen Park. Die geschwungenen Standbeine des Eiffelturms ragten über ihnen auf. Beim Blick nach oben offenbarte der Turm seine verwirrende Stahlkonstruktion: ein Fünfeck. Ein
Weitere Kostenlose Bücher