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Tore der Zeit: Roman (German Edition)

Tore der Zeit: Roman (German Edition)

Titel: Tore der Zeit: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Lea Nicolai
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waren Mikrofone angebracht.
    Plötzlich keuchte sie auf. Das Gewölbe bestand aus Gebeinen. Wie Ziegelsteine hatte man menschliche Oberschenkelknochen, Schädel und Halswirbel in den Mörtel gedrückt. Rippen spannten sich als Kreuzgewölbe an der Decke. Der Fußboden bestand aus festgetretenen Knochensplittern.
    »Gruselig«, stöhnte sie. »Das ist echt nur noch gruselig.«
    Lucian umfasste einen der Totenschädel. »Was hast du denn? Sind diese Gebeine etwa echt?«
    Ravenna nickte. »Es sind die Knochen von Millionen Parisern, die im Lauf der Zeit in den Katakomben beerdigt wurden.«
    Lucian zog schnell die Hand zurück. Sie verstand, weshalb er sich an die Styroporkulisse des Studios erinnert fühlte. Tatsächlich sahen die Knochen wie Attrappen aus knallbuntem Zuckerguss aus. Alle zwanzig Meter waren Lichtbogen aufgespannt. Punktstrahler hauchten einzelnen Totenköpfen Leben ein. Die Scheinwerfer verwandelten die menschlichen Überreste in einen grellen Jahrmarkt der Vergänglichkeit.
    Lucian warf einen Blick auf die Karte in ihrer Hand. Er las den Hinweis und hob eine Augenbraue. Dann schlenderte er gemächlich an den Abzweigungen entlang, kaute ein paar Salzmandeln und trank ab und zu einen Schluck aus der Wasserflasche.
    »Wonach suchst du denn?«, fragte Ravenna flüsternd, während sie ihm folgte.
    Ihr Ritter zuckte die Achseln. »Das weiß ich erst, wenn ich es finde.«
    »Nach versteckten Weisheiten – wonach sollte er sich denn sonst umschauen?«, giftete Vadym von der anderen Seite der Kammer. »Was für eine schwachsinnige Cherausforderung! Eine Geisterbahnfahrt!«
    Trotz seiner Unzufriedenheit zwang der russische Zauberer seinen Gehilfen, die gähnenden Tunneleingänge abzusuchen. Der Geruch nach Moder und erhitzten Lampen wehte ihnen aus den Stollen entgegen. Die beiden Kameramänner hielten die ganze Szene fest.
    Plötzlich blieb Lucian stehen. Sofort äugte Vadym zu ihnen herüber, aber der junge Ritter tat nichts weiter, als in aller Ruhe den Deckel auf die Flasche zu schrauben, den dunklen Mantel aufzuknöpfen und schließlich – als sich Vadyms Aufmerksamkeit längst wieder seinen eigenen Problemen zugewandt hatte – mit dem Flaschenhals auf einen grün schimmernden Schädel zu zeigen.
    Leti, stand auf der Stirn des Toten, in schön gravierter Schrift.
    Ravenna und Lucian tauschten einen Blick. Dann grinste sie. Folge dem Spruch.
    Sie rannten los. Ihr Ritter hatte den richtigen Tunnel gefunden, daran zweifelte sie keinen Augenblick. Und zwar nicht nur, weil ihnen einer der beiden Kameramänner folgte. Auf Constantins Burg hatte Lucian Latein gelernt. Er beherrschte die alte Sprache viel besser als sie. Leti – das war der Hinweis.
    Der Gang reichte ungefähr sechzig Meter in die Tiefe. Sie legten die Strecke in einem kräftigen Spurt zurück. An der nächsten Kreuzung trafen zwei Stollen aufeinander. Wieder suchten sie Schädeldecken, Kieferknochen und Oberschenkel nach Hinweisen ab. Nach kurzem Suchen entdeckte Ravenna das nächste Wort, diesmal auf einem rot pulsierenden Jochbein: mille.
    »Lateinische Weisheiten! Das hätte die Assistentin aber auch dazusagen können!«, keuchte sie, während sie weiterliefen. Vadym und sein junger Begleiter schienen nicht allzu weit entfernt. Offenbar eilten sie durch einen Gang, der parallel zu ihrem Stollen verlief.
    » Meum est propositum … – und wie geht es weiter?«, schrie der russische Magier gerade. Der Schall irrte durch die verzweigten Gänge. »Cherrgott, nun sag schon: Wie lautet der vollständige Spruch?«
    »Weiter! Na los doch!« Lucian schob sie vorwärts. »Wir müssen vor ihnen am Ziel sein.«
    Der Kameramann rannte hinter ihnen her. Der Gang senkte sich immer weiter in die Tiefe, und das Atmen fiel Ravenna schwer. Unter der Erde wurde es stickiger und wärmer.
    »Hier – repente !«, rief Lucian. »Wir müssen nach links abbiegen.«
    Auch in diesem Tunnel blinkten bunte Lämpchen – ein makaberer Scherz, den Beliar sich erlaubt hatte. Mitten in dem Gefunkel gelangten Ravenna und ihre Begleiter schließlich an die letzte Abzweigung. Sie wählten den mittleren von drei Gängen.
    » Leti mille repente viae «, setzte Lucian den Vers nun zusammen, während die Kamera auf sein Gesicht gerichtet war. » Schnell führen tausend Wege in den Tod. Ich hoffe sehr, Beliar meint das nicht wörtlich.«
    »Bei dem weiß man nie«, murmelte Ravenna. Sie gingen nun langsamer. Die Luft war unerträglich drückend. Schweißtropfen kitzelten sie an

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