Tore der Zeit: Roman (German Edition)
verfluchen.
Ravenna griff nach Lucian. Er beugte sich über seine Waffe, eine Hand um das Handgelenk der anderen gekrallt. Er hatte Vadym berührt, als dieser mit der Kraft des Tors in Kontakt stand.
»Das tust du nie wieder«, stieß sie hervor. »Ein verfluchtes Tor berühren, das im Begriff ist, sich zu öffnen. Nie wieder, hörst du? Ich verbiete es dir.«
Lucian hob den Kopf. Sein Gesicht war schmerzverzerrt. »Du musst den zweiten Teil der Gabelrippe einsetzen«, brachte er hervor. »Wenn du deine Schwester je wiedersehen willst, musst du dieses Tor bändigen. Schaffst du das, ohne dass dich der magische Strom verschlingt?«
»Ich weiß es nicht.« Ihre Stimme klang unsicher. Allein bei der Vorstellung, noch einmal in die Nähe des verfluchten Tors zu treten, wurde ihr ganz flau. Hier handelte es sich um echte, um gefährliche Magie. Um Magie, die töten konnte.
Vadyms Begleiter starrte sie an. Der Junge hatte nicht gewagt, das Gewölbe wieder zu betreten. Er drückte sich flach gegen die Wand des Gangs und wünschte im Augenblick sicher, er wäre weit weg. Irgendwo im tief verschneiten Sankt Petersburg.
»Wir können das Tor unmöglich in diesem halboffenen Zustand lassen!«, schärfte Lucian ihr ein. »Es würde noch andere ins Verderben reißen – unschuldige Schattenseelen womöglich, die durch die Katakomben wandern und sich der Gefahr nicht einmal bewusst sind.«
Mit einer Handbewegung winkte er den kupferhaarigen Burschen zu sich.
»Hilf mir! Fass mit an!«, befahl er und ergriffVadym unter den Achseln. »Wir stellen deinen Freund wieder auf die Beine. Anschließend bringst du ihn nach oben an die frische Luft. Dazu musst du nur eurem Spruch in umgekehrter Richtung folgen. Das Medium soll sich seine Verletzung ansehen. Ich bin sicher, der Sender hat sie genau zu diesem Zweck angeheuert.«
Der Junge machte ein ängstliches Gesicht. Er packte jedoch mit an und stützte Vadym, als dieser schwankend auf die Füße kam. »Verfluchte Chexe!«, stieß der Russe hervor, während ihm der Kopf immer wieder auf die Brust sank. Blut tropfte auf den Boden. »Dreimal verfluchte Chexe! Ich dachte, Beliar macht Witze, als er uns zwang, auf eine Magierin namens Ravenna zu warten. Was bist du – eine verdammte Schwarzkünstlerin?«
Seine Tirade verstummte, als Lucian sein Kinn mit der Schwertspitze anhob. »Wenn du genug Kraft hast zu fluchen, hast du auch genug Kraft zu laufen«, stellte der Ritter fest. Sein Tonfall war eisig. »Und nenn Ravenna nicht Hexe. Sie ist viel mehr als das. Sie ist die Tormeisterin.«
Vielleicht verlieh ihr sein Glaube an ihre Fähigkeiten ja genug Kraft. Sie trat zu dem Tor, obwohl alle Sinne sie davor warnten, sich im Umkreis dieser Erscheinung aufzuhalten.
Der erste Eindruck hatte sie nicht getäuscht. Der Strom war auf seltsame Weise ins Stocken geraten. Morrigans Kraft floss nicht mehr vom Scheitelpunkt des Himmels bis zum Kern der Erde, sondern wirkte zähflüssig wie halb erstarrtes Glas. Erkaltende Magie – das beschrieb diesen Zustand am ehesten.
Hinter sich hörte Ravenna mit halbem Ohr, wie Lucian den russischen Zauberern Beine machte. Sie holte tief Luft und stellte die Schuhspitze auf den Schädel. Mit der freien Hand tastete sie nach einem Vorsprung, krallte die Finger in eine schiefe Zahnreihe und zog sich in Reichweite des Torbogens. Ihr Teil der Gabelrippe fügte sich nahtlos in den Spalt. Und weil es ein Wunschknochen war, ließ sie ihre Hand kurz auf den zusammengefügten Knochenteilen liegen.
»Ich will meine Schwester wiedersehen«, flüsterte sie.
Als sie losließ, brach das Tor in sich zusammen. Der Strom erwachte, und die Magie riss alles mit sich, was sich in dem Gewölbe tief unter den Straßen von Paris befand.
Hexenhaar
Carcassonne im Februar 1254
Es war ein Vakuumschock. Ein Dahinrasen mit Lichtgeschwindigkeit, bis das Universum nicht größer als ein Stecknadelkopf war. Irgendetwas war falsch daran, etwas war anders als bei allen Zeitsprüngen, die Ravenna bisher erlebt hatte. Ihr Körper wurde in seine kleinsten Bestandteile zerlegt. Und dann: Schwerelosigkeit. Als wäre man eine Daune, von einem lauen Lüftchen emporgetragen.
Von einer Sekunde auf die andere änderte sich die Wirklichkeit erneut, und sie prallte ziemlich hart auf einen Steinboden. Felsbrocken prasselten auf sie nieder, trafen sie am Kopf und an den Beinen. Ein Knirschen übertönte alles, und der Boden schwankte unter ihr. Sie kroch auf allen vieren vorwärts, bis
Weitere Kostenlose Bücher