Tore der Zeit: Roman (German Edition)
Wolfsaugen auf.
»Ein Wunschknochen!«, schrie der Magier. »Eine Chexenrippe! Das also war in dem Koffer! Jetzt gehört sie mir!«
Lucian stieß einen Warnruf aus. Noch während er das Schwert zog – und er zog es sehr schnell –, prallte etwas Schweres gegen Ravennas Rücken. Das Gewicht riss sie zu Boden. Sie kam hart auf, prallte mit der Schläfe gegen einen eingemauerten Schädel und sah weiße Funken fliegen. Jemand packte einen Ast der Wünschelrute und zerrte daran.
Sie schrie empört auf. Vadyms Begleiter saß auf ihr und zog mit aller Kraft an der Rute. Einen Augenblick später zerrte Lucian den Burschen von ihr herunter und verfrachtete ihn unsanft in den Gang. Sie rappelte sich auf, aber da stand Vadym schon vor ihr und packte mit ganzer Kraft zu: Mit lautem Knacken brach die Wünschelrute entzwei. Nun erkannte Ravenna auch, weshalb das Ding Vadym derart entzückte: Es war tatsächlich eine Costa Bifurca – eine gegabelte Rippe. Eine äußerst seltene Missbildung, die ausschließlich bei Magiern und Hexen auftrat. Zumindest hatte sie vor Kurzem einen Artikel darüber gelesen. Im Illusionist.
Mit ausgestrecktem Schwert ging Lucian auf den russischen Magier zu. »Gib meiner Hexe den Wunschknochen wieder!«, verlangte er. Aber er würde sich niemals an einem Gegner vergreifen, der weder Helm noch Schild trug. Ein strenger Ehrenkodex, dem sich die Ritter an Constantins Hof unterwarfen, verhinderte dies.
»Vadym – tu das nicht!«, warnte Ravenna. Der Russe wich Schritt für Schritt vor ihnen zurück. Unaufhaltsam näherte er sich dem Torbogen. »Bleib weg von dem Durchgang! Merkst du denn nicht, wie sich der Strom in dem Portal staut? Irgendetwas stimmt nicht!«
»Natürlich stimmt etwas nicht. Der Gabelknochen wurde entfernt!«, fauchte der Magier. »Aber ich werde ihn wieder einsetzen. Dann können meine Freunde und ich endlich nach Sankt Petersburg zurückkehren. Und damit meine ich das richtige Sankt Petersburg zu seiner Glanzzeit im neunzehnten Jahrhundert! Aber du – du willst doch bloß verhindern, dass ich das Tor bediene.«
»Das Tor wird dich umbringen!«, schrie Ravenna. »Es ist verflucht!«
Überraschend schwang Lucian das Schwert. Er wollte den Magier erschrecken und ihn zum Fallenlassen der Rippe zwingen. Vadym parierte den Hieb jedoch mit dem Spazierstock und bewies dadurch zweierlei: Zum einen bestand der Stock nicht aus Holz, sondern aus speziell gehärtetem Stahl mit einer gefährlichen Spitze. Zum anderen verstand sich Vadym ausgezeichnet aufs Fechten. Mit zwei, drei geschickten Paraden hatte er sich den Weg zum Torbogen freigekämpft.
»Halt ihn auf! Um Himmels willen!«, schrie Ravenna. Sie stürzte dem leichtsinnigen Magier hinterher. Aber es war zu spät. Vadym stellte den rechten Fuß auf einen Totenkopf, zog sich mit der anderen Hand an einem Unterkiefer hoch und drückte schließlich den magischen Schlüssel in die Vertiefung.
Knirschend verschob sich die Kuppel aus Schädeln rings um sie. Es war, als wären sie in ein riesiges Mahlwerk geraten. Eine gnadenlose Kälte wehte plötzlich durch die unterirdischen Gänge, ein Luftstrom, der von weither kam.
»Es funktioniert! Das Tor öffnet sich!«, jubelte Vadym. Er hatte recht: Die Mauer aus Schädeln verblasste langsam. Sie war nichts weiter als ein Projektionszauber gewesen. Ein vernichtendes Kraftfeld tat sich vor ihnen auf: die verzerrte Magie eines verfluchten Tors.
Lucian stieß eine Warnung aus. Doch Vadym beachtete ihn nicht. Hastig sprang er von dem Schädel herunter. Der Durchgang erstrahlte nun im selben, fahlen Glanz wie der magische Gabelknochen. Der Magier streckte die Hand nach dem Schimmer aus – und verlor den linken Arm. Finger, Hand und der Ellenbogen wurden einfach von dem Tor aufgesogen, als der Arm in den tödlichen Mahlstrom geriet. Der leichtsinnige Zauberer aus Sankt Petersburg stolperte hinterher, bis er mit dem Gesicht gegen den Torbogen prallte. Da war Lucian schon bei ihm und zog ihn aus der Gefahrenzone.
Vadym fiel auf die Knie. Blut strömte aus einer Platzwunde an der Augenbraue. Es tröpfelte über Lippe und Kinn und verdarb den Pelzkragen des Mantels. Ungläubig starrte der Magier auf den Armstumpf an seiner Schulter. Weder Sehnen noch Knochenreste hingen an dem verstümmelten Glied. Wo der Arm gewesen war, flimmerte die Luft in namenlosen Farben. Das Licht schien Vadyms Gestalt zu umhüllen. Plötzlich krümmte er sich und fing an, den Großmeister der Mathematikerloge zu
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