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Tore der Zeit: Roman (German Edition)

Tore der Zeit: Roman (German Edition)

Titel: Tore der Zeit: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Lea Nicolai
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sie sich im Stockfinsteren den Kopf anstieß. In Panik streckte sie die Hände aus, ertastete eine Mauer aus Sandstein. Die Schädel und Knochen waren verschwunden. Ravenna krallte die Finger in die Fugen und zog sich hoch. Dann, urplötzlich, Stille.
    »Lucian? Lucian, wo bist du?«, keuchte sie. Die Schwärze war undurchdringlich. Als hätte man sie lebendig begraben.
    »Lucian!« Das klang bereits deutlich schriller.
    Ihr Ritter antwortete nicht, aber sie hörte ihn irgendwo in der Nähe atmen – viel zu schnell und viel zu flach. An der Wand tastete sie sich in Richtung des Geräuschs, suchte mit ausgestrecktem Arm nach ihm. Und fand ihn auf dem Boden sitzend, den Rücken gegen die Wand gepresst. Sie ergriff seine Hand. Unter den Fingern fühlte sie den Ring des Königs. Lucians Haut war eiskalt und feucht. Sie kauerte sich neben ihn auf den Boden.
    »Wo sind wir?« Ihre Frage kam leise und ängstlich. »Das sind nicht mehr die Katakomben von Paris. Wo um alles in der Welt sind wir?«
    Von Lucian kam ein Laut, wie sie ihn noch nie gehört hatte: ein hoher, fast erstickter Ton. »Ich weiß es. Ich weiß es.« Diese Antwort ergab keinen Sinn, aber er wiederholte diesen Satz immer wieder.
    »Lucian.« Ravenna klammerte sich an ihn, denn womöglich, so fürchtete sie, würde sie der Mahlstrom der Jahrtausende für immer auseinanderreißen. »Gerate jetzt bloß nicht in Panik.« Sie versuchte, so viel Zuversicht wie nur möglich in ihrer Stimme anklingen zu lassen. »Du musst den Kopf freikriegen, Lucian.«
    »Ich weiß, wo wir sind«, wiederholte er. »Und ich weiß, wer der Freund des Teufels ist. O Himmel – riechst du das denn nicht?«
    Ravenna blähte die Nasenflügel. Es stank nach verschimmeltem Kellergewölbe. Nach Rattenkot, mumifizierten Kohlblättern, nach etwas, das zum Sterben in eine Ecke gekrochen und nie wieder daraus hervorgekommen war. Hastig presste sie die Hand auf Mund und Nase.
    Lucian stemmte den Rücken gegen die Wand, als habe er Angst davor zu fallen. »Es gibt keinen Ausgang«, stieß er hervor. »Das heißt … natürlich hat das Verlies eine Tür. Sie lässt sich aber nur von außen entriegeln.«
    »Ein Verlies?« Ravenna schauderte. »Woher weißt du, dass wir uns in einem Verlies befinden? Ich kann überhaupt nichts erkennen.«
    Sie rieb sich die Augen. Lucian schlang die Arme fest um sie, als müsse er ihr gleich eine furchtbare Nachricht überbringen.
    »Es war hier«, flüsterte er, den Mund dicht an ihrem Ohr. »Diesen Gestank werde ich nie im Leben vergessen. In diesem Kerker brachte mir mein Vater bei, was Acencræft ist.«
    » Was ?« Ein erstickter Laut kam über Ravennas Lippen. Sie wollte sich befreien, doch Lucian spannte sämtliche Muskeln an. Er schien sie beinahe zu erdrücken.
    »Wir befinden uns in jenem Schwarzen Tempel, in dem Velasco den Teufel beschwor. Diese Vision erzeugte Beliar, als ich mich in dem Projektor befand. Ungefähr zwei Schritte von hier, in der Mitte des Raums, steht ein Blutaltar. Dort entriss mein Vater anderen Magiern ihre Kraft. Er brauchte sie, um seine kranken Hexereien durchzuführen. Deshalb kettete er die armen Seelen an den Stein und … aber nein. Das sollst du nicht hören. Es würde dir nur unnötig Angst einjagen. Velascos Gabe war einfach nur schrecklich. Er brachte an keinem einzigen Tag seines Lebens etwas Gutes zustande.«
    Ein Laut drang aus Ravennas Mund, ein Geräusch zwischen Schluchzen und verzweifeltem Auflachen. Lucian wollte ihr keine Angst einjagen?
    »Ich fürchte mich doch schon zu Tode!«, stieß sie hervor. Panik umschloss sie wie eine zweite Haut. Von dem Gestank im Kerker wurde ihr übel. »Was hat Velasco getan, dass du ihn so sehr hasst?«
    »Weshalb ich ihn hasse? Ich hasse meinen Vater nicht. Und wenn dem so ist, dann hasst er mich auch«, erwiderte Lucian. »Weil ich seine Pläne durchkreuzte. Und zwar mehr als einmal.« Er schwieg einen Augenblick. Im Dunkeln lauschte Ravenna auf seine Atemzüge.
    »Jedes Mal, wenn Velasco in Carcassonne Hof hielt, brachte er mich hierher«, fuhr er dann fort. »Er zwang mich, dabei zuzusehen, wie er andere Magier quälte. Eines Tages forderte er mich auf, es selbst zu tun.«
    Ravenna hielt den Atem an.
    »Eine Zeitlang schaffte ich es, Velasco den Gehorsam zu verweigern. Mein Vater dachte sich immer neue Strafen für meinen Ungehorsam aus. Oft sperrte er mich hier unten ein. Er tat so, als wäre ich eine feindliche Geisel. Irgendein Verbrecher, dessen Willen man brechen

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