Tore der Zeit: Roman (German Edition)
müsste. Dann, eines Tages, kam er mit dem Sohn des Kürschners, einem Spielgefährten aus damaligen Tagen. Diego besaß eine schwache Gabe. Das sanfte Talent eines Heilers. Ich habe oft erlebt, wie er eine verstauchte Vogelschwinge heilte oder blaue Flecken verblassen ließ.« Lucians Stimme zitterte. »Hast du eine Ahnung, was aus Menschen wird, denen man die Gabe mit Gewalt entreißt? Sie sind wie lebende Tote. Es gibt auf der ganzen Welt keine unglücklicheren Kreaturen. Velasco verlangte von mir, Diego genau das anzutun.«
»Hör auf! Hör auf damit!«, keuchte Ravenna, entsetzt von dem Gedanken, was zwei Schritte entfernt geschehen war. »Du hast vollkommen recht. Ich will das nicht hören!«
»Hör auf! Wie oft flehte ich meinen Vater an – mit genau denselben Worten!«, stieß Lucian hervor. »Aber du wolltest diese Geschichte hören, Ravenna. Im Taxi hast du mich deswegen angeschrien. Verstehst du denn nicht: Ich musste so leben, bis Constantin kam und die Stammburg meines Vaters dem Erdboden gleichmachte. Sie stand nicht weit von hier in den Bergen. Erst als Velasco besiegt war, kam ich frei. Der König nahm mich mit und zog mich auf, wohl wissend, wen er sich da an den Hof holte. Oder besser gesagt: was . Eine versklavte Seele. Ein gebrochenes, magisches Talent.«
Ravenna zitterte. Sie ballte die Hände zu Fäusten, so fest, dass es weh tat.
»Ich weigerte mich«, fuhr Lucian fort. »Ich schrie, ich würde Diego niemals anrühren. Vater schlug zu und stieß mich gegen den Blutstein. Was anschließend geschah, weiß ich nicht mehr. Aber an jenem Tag entdeckte ich meine Gabe. Verstehst du, Ravenna: Acencræft , die Fähigkeit, andere durch den bloßen Willen zu verletzen … ich setzte sie beim ersten Mal gegen meinen Vater ein. So gab ich dem Kürschnersohn Gelegenheit zur Flucht.«
»O Gott. Großer Gott.« Das war alles, was Ravenna über die Lippen brachte. Sie fror am ganzen Körper.
»Und jetzt?«, flüsterte sie. »Ich meine, was soll jetzt aus uns werden?«
Sie zuckten beide zusammen, als in der Finsternis plötzlich ein träges, einsames Klatschen ertönte. Das Geräusch rief Flammen hervor, die ringsum auf Fackeln sprangen. Der Geruch von brennendem Pech überlagerte den Gestank im Kerker.
Das Verlies maß vielleicht fünf oder sechs Schritte im Durchmesser. Wasser zog faulige Bahnen über den Stein. Dreck verrottete auf dem Boden, und in der Mitte stand ein länglicher Stein, der in der Mitte ein Loch hatte. Der Blutaltar.
Dort stand Beliar. Unbarmherzig richtete er eine Videokamera auf seine Gefangenen. Das Gerät war so klein, dass er es in der hohlen Hand verbergen konnte. Auch der Teufel hatte sich verändert, so wie ihre Umgebung: Er trug einen bodenlangen Umhang, der vorn an der Brust von einer dünnen Kette gehalten wurde. Darunter saß ein Wams, bestickt mit silbernen Skorpionen. Seine unförmige Brille hatte Gläser aus geschliffenen, eisfarbenen Bergkristallen. Ein Ding, das gerade erst erfunden worden ist, zuckte es Ravenna durch den Kopf.
Der Sprung durch das Portal in den Katakomben war gelungen. Das bewiesen die eisernen Fackelhalter und die schwere, mit Nägeln beschlagene Tür. Sie befanden sich im dreizehnten Jahrhundert, in dem Urteile mit dem Schwert gefällt wurden und Väter wie Tyrannen über ihre Söhne herrschten.
»Ich bin beeindruckt«, sagte Beliar, zu ihrer Verwirrung endlich einmal ohne ironischen Unterton in der Stimme. »Lucian hat die Aufgabe einwandfrei gelöst. Und das im Stockfinsteren und ohne einen Anhaltspunkt außer diesem bestialischen Gestank. Wirklich beachtlich. Ihr habt soeben einen quer verlaufenden Sprung absolviert. Doch er hat sofort erkannt, was geschehen ist.«
Ravenna keuchte. » Einen quer … wa s ?«
»Einen Sprung, der quer zur Zeitlinie verläuft«, erläuterte Beliar, während er fortfuhr, sie zu filmen. »Ihr habt nicht nur mehrere Jahrhunderte durchquert, sondern halb Frankreich. Gegenwärtig befindet ihr euch in einer feindlichen Burg am Rande der Pyrenäen, jenes Gebirges, welches das Reich der Sieben von der iberischen Halbinsel trennt. Dein Ritter wird dir sicher gleich erklären, dass solche Sprünge sehr gefährlich und daher streng verboten sind. Nicht wahr, Lucian?«
Ein metallisches Scharren ertönte, als der junge Ritter sein Schwert zu sich heranzog. Dann kam er auf die Beine. Kalte Wut stand in seinem Blick, doch Beliar hob warnend die Hand.
»An deiner Stelle würde ich jegliches aggressive Verhalten
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