Tore nach Thulien 2 : Dämmerung (German Edition)
seinen Schüler beiseite. >> Was beginnt, für das Auge sichtbar, unmittelbar nach dem Rückgang der Totenstarre, Talin? <<
Der Junge entspannte sich sofort. Die drückende Prüfungsatmosphäre war verflogen und prompt fiel ihm auch die richtige Antwort ein. >> Die Verwesung, Meister Eirik <<
Die Augen des Alten leuchteten. >> Ganz genau! Und mit welchen äußerlichen Kennzeichen beginnt die Verwesung? << Meister Eirik war nun in seinem Element. Er mochte es, Dingen auf den Grund zu gehen und Lösungen Schritt für Schritt über bekannte und gültige Regeln herzuleiten.
Talin überlegte kurz und begann dann, wie aus dem Lehrbuch, zu rezitieren. >> Die Verwesung beginnt unmittelbar nach dem Tod des Lebewesens. Durch die direkt wahrnehmbare Leichenstarre jedoch, rücken die Anfänge der Verwesung in den Hintergrund. Ein erstes Zeichen für die Verwesung ist das bläuliche Hervortreten der Adern und, in Verbindung mit dem Verblassen der Haut, ein allgemein marmorierender Eindruck der Leiche und … << Talin hielt inne und blickte seinen Meister überrascht an.
Der nickte vielsagend und mit großen Augen. >> Ganz genau! Kein Hervortreten der Adern und kein Marmoreffekt bei unseren Leichen! << Der Medikus unterstrich seine Aussage mit einem erhobenen Zeigefinger, und in diesem Moment kam Meister Eirik Talins Vorstellung von den altehrwürdigen Lehrern der Reichsakademien sehr nahe.
>> Aber Meister, das kann doch nur bedeuten, dass die beiden dort unten gar nicht tot sind! << , rief Talin plötzlich aus.
Eiriks Miene verfinsterte sich sofort wieder. Eben noch hatte er ernsthaft in Erwägung gezogen, dem Jungen eine Empfehlung für die Reichsakademie der Heilung und Erneuerung in Königsbrück, der Hauptstadt des Reiches auszusprechen, doch nun würde er ihm am liebsten eine für den Abort des Hospitals ausstellen. Der Junge zog ständig voreilige Schlüsse, und egal, wie oft Eirik versuchte, ihm klar zu machen, die Dinge gelassen und mit ruhigem Sachverstand zu analysieren, er preschte immer wieder unversehens in die erstbeste Richtung. >> Talin, benutze deinen Verstand! << Die Augen des Meisters funkelten.
Talin zuckte unwillkürlich zusammen. >> Ich dachte doch nur … ich wollte doch … << Er brach ab und ließ die Schultern hängen.
>> Ja, denken sollst du und das nicht zu knapp, aber wenn das Ergebnis ständig tölpelhafte Bemerkungen und absurde Feststellungen sind, dann geh besser Schafe oder Ziegen hüten, denn denen gehst du damit nicht auf die Nerven! <<
Talin wollte etwas sagen, doch Eirik machte eine wegwischende Geste.
>> Die Heilkunde ist ein breites und sehr komplexes Feld der Wissenschaft, das nur mit viel Arbeit und der Disziplin, sich an Fakten zu halten, zu ergründen ist! << Eirik sah Talin tadelnd an, winkte dann aber ab. Er seufzte. >> Lassen wir es gut sein für heute. Wie weit bist du mit dem Band Die Keuche unter der Sommerblüte ? <<
Talin stutzte und atmete tief ein. >> Aber Meister Eirik … das … das ist doch Stoff für die Akademie! << Er blickte seinen Lehrmeister erschrocken und verwirrt an.
>> Nichts da, nichts da! << , antwortete Eirik schnell. >> Es schadet nicht, zu wissen, was auf dich zukommt und was für die Bengel auf der Akademie gut ist, ist auch gut für dich! << Eirik gab Talin mit einer Geste zu verstehen, dass er keinen Widerspruch duldete und der Schüler fügte sich stumm in sein Schicksal. Sichtlich niedergeschlagen und mit enttäuschtem Gesichtsausdruck, ging Talin in seine Kammer, um dort das Buch, von dem Eirik gesprochen hatte, zu lesen. Der Medikus sah seinem Schüler mit einem gütigen Schmunzeln nach. Er mochte den Jungen und war mit seinen Leistungen im Großen und Ganzen zufrieden. Wenn es ihm jetzt noch gelang, seine voreiligen Schlussfolgerungen unter Kontrolle zu bringen, dann stand der Empfehlung für die Akademie nichts mehr im Wege. Mit einem abschließenden Blick auf seinen Schützling machte sich Eirik dann wieder auf den Weg ins Labor. Es war kurz vor der Mittagsstunde, und er wollte sich noch einmal die beiden Toten ansehen. Viel erwartete er sich zwar nicht mehr davon, doch konnte eine letzte, abschließende Begutachtung nicht schaden. Außerdem war das Rätsel um die fehlende Verwesung noch nicht gelöst und er wäre nicht Eirik Bentlahn, wenn er diese Frage einfach so unbeantwortet ließ.
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