Tore nach Thulien 2 : Dämmerung (German Edition)
oder drei Mäuler gekocht wurde, spielte keine Rolle. Die Aufgabe der Schwestern war es, unter Anweisung von Eirik den normalen Betrieb der Einrichtung am Laufen zu halten, und zu den Pflichten des Schülers gehörte, neben dem Lernen, auch die persönliche Assistenz und Pflege des Medikus.
>> Talin! Ich bin wieder hier! << , rief Eirik durch den Gang des Erdgeschosses und schlurfte langsam in Richtung Treppe. Er hatte vor, sein Abendbrot im Schlafgemach einzunehmen und sich danach schlafen zu legen. Sollte ihm doch der Junge das Essen auf sein Zimmer bringen, war er schließlich noch jung an Jahren und reich an Kraft und Ausdauer. >> Talin! Wo steckst du schon wieder? Das man dich auch immer suchen muss! << , rief der Medikus, diesmal leicht verärgert. Die Ungeduld verbannte er bewusst nicht aus der Stimme. Als er erneut keine Antwort bekam, blieb Eirik stehen und lauschte. Absolute Stille herrschte in dem großen Haus. Der Medikus wurde stutzig. Hatte sich Talin etwa schon schlafen gelegt? Eirik straffte sich. Na, der konnte was erleben! Die Müdigkeit war auf einmal wie weggeblasen und mit weit ausholenden Schritten eilte Eirik in Richtung Treppenaufgang. Gerade als er um die Ecke kam, und sich schon ein wüstes Donnerwetter für Talin überlegt hatte, blieb er abrupt stehen. Etwas stimmte nicht. Der uralte, beinahe schon in Vergessenheit geratene Kriegerinstinkt des Medikus’ meldete sich plötzlich und alle Nackenhaare stellten sich ihm auf. Im Gegensatz zum großen Flur des Erdgeschosses brannten im Treppenaufgang keine Kerzen, und so konnte Eirik lediglich Umrisse erkennen. Vor ihm, dicht am Treppenabsatz, lag eine Gestalt reglos am Boden und daneben, in gebückter Haltung, kauerten zwei weiße Schemen. Eirik schluckte und sein Mund wurde ganz trocken. Eine Hand ging instinktiv an seine Seite und mit der anderen hielt er sich an der Wand fest. Die beiden Schemen schienen ihn noch nicht bemerkt zu haben und kauerten weiterhin beinahe regungslos neben der Gestalt am Boden. Es war noch immer absolut still im Haus, doch jetzt konnte Eirik ein leichtes Zischen hören. Das Geräusch kam direkt von vorne und irgendwie wusste er, dass es zu den hellen Gestalten gehörte. Es war sicherlich kein Zufall, dass dem Medikus auf einmal wieder die Worte des Hauptmanns und auch seines Schülers in den Sinn kamen. Ihm wurde schwindlig und er ahnte bereits, wen er da vor sich sah. Das konnte nicht sein! Das durfte nicht sein!
Alles in ihm sträubte sich gegen die Erkenntnis, und wie um sich selbst zu beruhigen, begann er, einem Mantra gleich, immer und immer wieder dieselben Worte aufzusagen: Das kann nicht sein! Das kann einfach nicht sein!
Als es Eirik gelang, sich aus der ersten Erstarrung zu lösen, machte er langsam einen Schritt zurück. Er wagte dabei kaum zu atmen. Im nächsten Moment hörte das Zischen auf und die Köpfe der beiden hellen Schemen drehten sich in seine Richtung. Eirik klopfte das Herz bis zum Hals. Widergänger , hallte es plötzlich in seinem Kopf, und es war mehr ein Eingeständnis denn eine Feststellung. Ganz langsam erhoben sich die Gestalten. Eirik hingegen war nicht fähig, sich zu bewegen. Etwas schnürte ihm die Kehle zu. Der Medikus war eigentlich ein Mensch, der es gewohnt war, mit dem Verstand zu arbeiten. Für ihn zählten schon seit Langem Fakten und Tatsachen mehr, als mystische Legenden oder Sagen. Und vom Volksglauben im Reich, dem Glauben an die Herrin, hatte er sich bereits vor langer Zeit verabschiedet. Nach außen hin zeigte er das freilich nicht, wusste er doch um die Macht und die Gewalt, mit der die Kirche herrschte. Doch in diesem Moment geriet sein Weltbild mit einem Schlag ins Wanken, und urplötzlich erfasste ihn eine Woge ungeheurer Panik. Es war nicht die Angst vor dem Tod, sondern die Angst, das zu verlieren, woran er eigentlich schon gar nicht mehr geglaubt hatte. Er fürchtete um seine Seele!
Mit eiserner Disziplin riss er sich von der Szenerie los und zwang sich dazu, wieder in vernünftigen und rationellen Bahnen zu denken. Wenn er überleben wollte, dann musste er hier weg. Für den armen Kerl am Boden kam vermutlich jede Hilfe zu spät, er aber konnte sich noch retten. Wenn er schnell handelte. Ohne einen weiteren Gedanken an das vermeintlich Kommende zu verschwenden, drehte sich Eirik um und hastete los. Besonders schnell war er mit seinen alten Knochen nicht, doch dafür fest entschlossen. Er mochte alt und dem Tod näher sein
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