Tore nach Thulien 2 : Dämmerung (German Edition)
wesentlich größere Macht. Noch einmal blitzte es in den Augen des Medikus’ auf, doch dann fügte er sich und zog die Hand wieder zurück. Taris atmete erleichtert auf. Er war mit den Ermittlungen zu den Widergängern beauftragt worden, und er konnte es sich nicht leisten, dass sich zwei wichtige Beteiligte von Beginn an einen Kleinkrieg lieferten. Dem Erlöser waren die vernichtenden Blicke des Medikus’ sicherlich nicht entgangen, und dennoch hielt er an seiner ruhigen, erklärenden Art fest.
>> Lasst mich sehen, wie es der Seele Eures Schülers geht! Im Zweifelsfalle verlieren wir nur ein bisschen Zeit. << Wieder sprach Uriel mit gütiger, versöhnlicher Stimme und Taris kam nicht umhin, ihn dafür zu bewundern. Seine Vorgänger hätten Eirik schon jetzt die ganze Härte ihrer Macht spüren lassen. Uriel hingegen verzichtete darauf.
Dieser Erlöser ist so anders als die anderen , dachte sich Taris. Er hatte schon viele Erlöser in Leuenburg kommen und wieder gehen sehen, und alle waren sie ausnahmslos alte Männer gewesen. Hohe Würdenträger des Glaubens, die sich über Jahre hinweg langsam in der hierarchischen Struktur der Kirche nach oben gearbeitet hatten. Äußerlich und in ihrer Art, die Geschicke der Kirche im Herzogtum zu lenken, zwar sehr unterschiedlich, doch in denselben Charakterzügen wiederum vereint: Arroganz, Überheblichkeit und der unbedingte Wille zur Macht. Bei Uriel hingegen suchte man zumindest die beiden Ersteren vergebens. Taris hatte von Anfang an das Gefühl gehabt, dass dieser Mann wirklich um das Wohlergehen und das Seelenheil der Menschen bemüht war. Ihm lag viel am Umgang der Kirche mit ihren Gläubigen, und auch die weltlichen Belange der Stadt und des Herzogtums stellte er nicht ganz hinten an.
Entgegen der normalen Nachfolgeregelung war Uriel von Hartingen das Amt förmlich in den Schoß gefallen. Sein Vorgänger, plötzlich und unerwartet zur Herrin befohlen, hatte für den eigentlichen Übergangsritus damals nicht mehr genug Zeit, und so setzte der Erlöserrat kurzerhand Uriel als dessen Nachfolger ein. Uriel selbst war noch vergleichsweise jung. Taris schätzte ihn auf knapp über dreißig Winter. Bereits als junger Novize hatte Uriel auf sich aufmerksam gemacht. Er war stets Jahrgangsbester gewesen und hatte sich mit seinen Leistungen deutlich von seinen Mitschülern abgehoben. Man sagte ihm nach, dass er außerordentlich fest im Glauben verwachsen war und über eine äußerst starke und außergewöhnliche Bindung zur Herrin verfügte. Manch einer handelte ihn sogar schon als den neuen Erzdelegaten, den Vorsitzenden des Erlöserrates des Reiches. Taris selbst kannte sich mit den politischen Strukturen der Kirche nicht aus, fand es jedoch seltsam, dass jemand wie Uriel in einer kleinen und für das Reich weniger bedeutenden Stadt wie Leuenburg den Posten des Erlösers bekam. Vielleicht war das aber auch noch immer Teil seiner Ausbildung und Leuenburg der perfekte Ort, die Pflichten und Arbeiten eines Erlösers in Ruhe kennen zu lernen. Wie auch immer es schlussendlich dazu gekommen war, Taris mochte Uriel von Hartingen. Zwar hatte der die Stellung des Erlösers erst seit wenigen Wochen inne, doch schon jetzt gefiel ihm und auch den Leuten, was Uriel von sich und seiner Arbeit nach außen trug.
Taris beobachtete den Erlöser. Uriel kniete inzwischen ebenfalls neben der Leiche und hielt dabei eine Hand knapp über den toten Körper. Seine Lippen bewegten sich und Taris konnte leise Wortfetzen verstehen. Er vermutete, dass es sich dabei um ein altes Gebet der Herrin aus den Versen der Altvorderen handelte, wagte jedoch nicht danach zu fragen. Sein Begleiter, in eine schwarze Robe gehüllt und die Kapuze tief ins Gesicht gezogen, stand daneben und rührte sich nicht. Scheinbar konzentrierte er sich voll und ganz auf das, was der Erlöser gerade tat. Er war Taris als Bruder Malachias vorgestellt worden. Taris konnte sich vage daran erinnern, ihn schon einmal gesehen zu haben, wusste jedoch nicht mehr wann und wo. Bruder Malachias gehörte zu den Fraternern, den Mönchen des großen Doms der Herrin in Leuenburg. Sie waren Diener des Glaubens und verrichteten die alltäglichen Arbeiten im Dom. Sie unterstanden einzig und allein dem Erlöser, und nicht einmal der Herzog durfte ihnen ohne Rücksprache mit dem Erlöser Befehle erteilen. Taris bewunderte die Fraterner für ihre Entscheidung, ein Leben in fast völliger Armut und Abgeschiedenheit
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