Tore nach Thulien 4 : Grüfte und Katakomben (German Edition)
unausgesprochene Bedrohung, die auf der Stadt des Herzogs zu liegen schienen, machten ihm zu schaffen, und er musste aufpassen, dass die dahinter steckende Angst nicht die Oberhand gewann. Noch war alles weitestgehend in Ordnung, auch wenn es unter der Oberfläche bereits zu brodeln begonnen hatte. Noch lag es in ihren Händen und der Macht des Herzogs, Unheil von Leuenburg abzuwenden, auch wenn weder er noch die anderen wirklich wussten, auf welche Art und Weise das Unglück in Erscheinung treten würde. Es war nur ein Gefühl, eine Ahnung, und Taris wusste, dass er damit nicht alleine war. Selbst Eirik, der sich sonst eigentlich nur von seinem kühlen Sachverstand leiten ließ, war nervös, und das wollte was heißen.
Taris seufzte und schaute aus dem Fenster. Er hatte es sich auf Eiriks Stuhl bequem gemacht und sah dem Regen zu, der in langen, ausgemergelten Rinnsalen an den Butzenscheiben herablief. Langsam und ohne recht zu wissen, was er tat, schob er sich dann auf der Sitzfläche nach vorne und ließ sich vor dem Fenster auf eines seiner Knie runter. Die Hände, in einer frommen Geste aneinander gelegt, stützte er dabei mit den Ellenbogen auf dem anderen ab. Er schloss die Augen und begann, einem unbewussten Impuls folgend, leise zu beten.
Herrin, Erlöserin der Menschen,
Gewissen der Tugendhaften und
Mahnerin der Lästerlichen.
Schenke uns Kraft in dunkelster Stunde,
auf dass wir dem Schatten und den Verlockungen trotzen
und stets in deiner Reinheit und Standhaftigkeit ein Beispiel finden!
Schenke uns Mut, dem Bösen gefeit und ohne Angst entgegenzutreten
und halte deine schützende Hand stets über uns!
Du bist die Offenbarung, das Leben, der Tod und die Erlösung.
Du öffnest und schließt den fortwährenden Kreis des Seins
und nur durch dich kehren wir einst in den Schoß deiner Herrlichkeit zurück.
>> Ein wunderschönes Gebet aus den Lexarien des Albernus von Hohenstahl << , erklang plötzlich leise eine sanfte, freundliche Stimme hinter Taris.
Der drehte nur leicht den Kopf und erkannte Uriel, wie er in der Tür zur Bibliothek des Hospitals stand. >> Ja, ein wirklich wunderschöner alter Text << . Langsam erhob er sich
>> Oh nein, bitte! Ich wollte Euch nicht unterbrechen. << Uriel trat rasch ein paar Schritte auf Taris zu und gab ihm mit einer Geste zu verstehen, sich von ihm nicht stören zu lassen.
Taris lächelte dankbar, blieb jedoch stehen. Irgendwie war er froh, dass der Erlöser ihn während der kleinen Andacht gestört hatte. Vielleicht wusste er ja ein paar Antworten auf seine Fragen.
>> Es war nur eine kurze Besinnung, Hochwürden. In Zeiten wie diesen sollte man mehr denn je daran denken << , gab er als Antwort zurück und versuchte dabei, sein zerknittertes Wams wieder einigermaßen in Ordnung zu bringen. Er wollte Uriel nicht direkt auf die Widergänger und die Rolle der Kirche dabei ansprechen, hoffte aber, dass der Erlöser die Bemerkung als Aufforderung zum Gespräch verstand.
>> Unsere Zeiten sind den vergangenen nicht unähnlich, und dennoch, jede Generation hat mit ihren eigenen Schwierigkeiten zu kämpfen << , sinnierte Uriel und trat zu Taris ans Fenster. Auch sein Blick ging nun nach draußen und verfolgte den ungleichen Lauf der Tropfen auf dem Glas.
Noch wusste Taris nicht, ob sich der Erlöser auf ein längeres Gespräch einlassen würde, einen weiteren Versuch aber wollte er dennoch wagen. >> Ist das, was jetzt passiert, früher schon einmal geschehen? << , fragte er und suchte den Blick des Erlösers.
Der machte einen tiefen Atemzug, legte die Stirn kurz in Falten und sah dann zu Taris. >> So oder in ähnlicher Form mit Sicherheit. In den Texten der Altvorderen ist darüber Einiges zu finden, doch ging auch Vieles in den Wirren der großen Erlösung vor mehr als vierhundert Jahren unwiederbringlich verloren. Im Grunde haben wir nur Bruchstücke und einzelne Fragmente, die es nun gilt, zu einem einzigen Bild zusammenzufügen. <<
>> Was wollen die Incubi von uns? Warum sind sie hier? <<
Der Erlöser drehte sich um und überließ die Tropfen auf der Glasschreibe nun endgültig ihrem Schicksal. >> Das Böse hat viele Gesichter, Taris, und nur die wenigsten sind uns bekannt. Es ist facettenreich und wandelbar, doch am Ende verfolgt es immer nur ein und dasselbe Ziel: Die Vernichtung der Ordnung, der Reinheit und des Guten.
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