Tore nach Thulien 4 : Grüfte und Katakomben (German Edition)
Pflasterstraße galoppieren. Die Turmspitze des Leuenburger Doms hatte er schon vor einigen Kilometer kurz am rot glühenden Himmel entlang kratzen sehen, und jetzt hielt er nach den wehenden Fahnen der Stadtmauer Ausschau. Es konnte nicht mehr weit sein. Die Wunde an der Brust störte ihn nicht mehr. Sie hatte längst aufgehört zu bluten. Geblieben war ein feines, ausgetrocknetes Rinnsal, das sich hellrot schimmernd vom silbernen Eisen der Brustplatte abhob. In dem von der Dolchspitze in den Panzer geschlagenen Loch steckte ein blutgetränktes Tuch und verhinderte, dass aufgewirbelter Schmutz oder Dreck in die Wunde geraten konnten. Bis vorgestern hatte Grodwig nicht für möglich gehalten, dass eine derart hochwertig gefertigte Brünne von einer Waffe dieser Machart durchschlagen werden konnte, noch dazu in einem Handgemenge wie dem letzten. Diese doch überraschende Erkenntnis und die Vorkommnisse der vergangenen Wochen in Leuenburg hatten ihn schließlich in seiner ersten Annahme bestärkt, dass es sich bei den Angreifern um Schattenkrieger gehandelt haben musste. Er kannte die hervorragend ausgerüsteten, und in unbekannten Techniken geschulten Krieger aus dem letzten Krieg und wusste, wozu sie fähig waren. Außerdem hatte Hauptmann Taris von den Sabotageakten der Schwarzen Skorpione erzählt, und er war sich jetzt sicher, dass auch genau die hinter dem Angriff im Wald von Eichenbruch steckten. Irgendwas ging hier oben im Norden des Reiches vor. Warum sonst sollten sich Schattenkrieger so zahlreich und derart vehement in die Geschicke des Herzogtums einmischen? Natürlich waren die Versuche der Skorpione, die Reise ins Wilderland zu verhindern oder zumindest zu erschweren, ärgerlich, doch hatte sie Grodwig bisher immer nur auf das durch Neid und Missgunst befeuerte Engagement seiner politischen Gegner geschoben. Der Hinterhalt jedoch zwang ihn nun zum Umdenken. Was, wenn die bedrohliche Entwicklung im Westen und das Auftreten der Schwarzen Skorpione tatsächlich in einem Zusammenhang standen? Was, wenn an den Schauergeschichten, die weit über die bloße Sichtung von Widergängern hinausgingen und immer tiefer ins Reich sickerten, etwas Wahres dran war? Konnte es sein, dass er nach all den Jahren am Ende doch Recht behalten sollte, dass er mit seinen ganzen Vorbereitungen und Vorsorgen richtig gehandelt hatte? Am ersten Abend des Reichstages war ihm dieser Gedanke schon einmal gekommen, doch erst jetzt, unter dem Eindruck des Angriffs auf seine Schar, wirkte er plötzlich greifbar und real. Die Berichte der Herzöge des Westens hatten ihn dazu bewogen, Königsbrück früher als geplant zu verlassen, auch wenn er damals, ganz entgegen seiner Art, einem schlichten Gefühl gefolgt war. Heute, gerade einmal fünf Tage später, sah das anders aus. Beinahe alles in ihm sträubte sich gegen die Erkenntnis, kämpfte dagegen an, doch ein tief verborgener Teil seiner Seele kannte die Wahrheit, hatte sie genau genommen schon immer gekannt: Man hatte ihn belogen. Man hatte sie alle belogen!
Ob aus Angst vor dem Verlust der Macht, oder einfach der Arroganz und Überheblichkeit der letzten Jahre wegen. Sogar eine Mischung aus Beidem war durchaus möglich. Lange wurden die Vorzeichen ignoriert und Mahnungen der Vorsichtigen als Humbug oder Scharlatanerie abgetan. Wie oft hatte man gerade ihn in den letzten zwei Jahren belächelt und vor allem sein Siedlungsprojekt als den Gipfel exzentrischer Auswüchse diffamiert? Mit dem Aufstieg des Reichs hielten seinerzeit Selbstherrlichkeit und Hybris Einzug in Königsbrück, und man vergaß alte Werte und Überlieferungen. Das heilige Andenken der Herrin wurde selbstredend über alle irdischen Dinge gestellt und ihrem glorreichen Akt der Einigung tief und inbrünstig gehuldigt. Die Schwierigkeiten und Entbehrungen, die für diesen unvergleichlichen Siegeszug notwendig gewesen waren, hatte man hingegen schnell vergessen. Schriften aus jener Zeit wurden selten und die mündliche Weitergabe von Generation zu Generation irgendwann unterbrochen. Heute war der Zustand der Glückseligkeit und Sicherheit selbstverständlich, von der Herrin gegeben und durch ihre Kirche und den weltlichen Schwertarm des Königs geschützt. Nichts und Niemand wollte an diesem Zustand rütteln oder ihn gar in Frage stellen, profitierten sie doch alle davon. Die Herrin und ihr Vermächtnis waren das Fundament der Macht, und solange Legenden auch genau solche blieben, war alles in
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