Torso
siehst schlecht aus«, sagte sie. »Und alt. Sehe ich auch so aus?«
»Ja«, sagte er. »Sicher. Wo ist Frank?«
Sie machte eine fahrige Handbewegung. Zollanger versuchte erst gar nicht, die Geste zu deuten. Es war ihm schnuppe, wo sein Nachfolger an Sonias Seite war.
»Willst du einen Kaffee?«
»Ja. Gern.«
Als sie mit den zwei Tassen erschien, wusste er wie immer nicht, was er sagen sollte. Er kam seit Jahren bisweilen hier vorbei. Sie plauderten eine Stunde über nichtssagende Dinge. Dann ging er wieder. Vielleicht, weil sie immer noch hofften zu erfahren, was damals eigentlich passiert war.
Er musterte sie. Sie war wirklich gealtert. Ihre Haare waren schon lange grau. Aber die Haut hatte sichtlich nachgelassen. Vor allem am Hals. Er sah das. Wenn er jedoch ehrlich war, dann sah er nur ihre lebendigen, immer ein wenig spöttischen Augen. Und darin die bezaubernde junge Frau, die er vor sechsunddreißig Jahren geheiratet und zwölf Jahre später wieder verlassen hatte. Oder sie ihn. Darüber waren sie sich bis heute nicht einig.
»Nicht bei der Arbeit heute?«, fragte sie. »Kein Mord und Totschlag in der Stadt?«
»Ziemlich ruhig.«
»Hier draußen auch. Was machst du so? Reisepläne über Weihnachten?«
Er schüttelte den Kopf. »Nein. Ihr?«
»Hiddensee.«
Er stellte die Tasse ab.
»Du hast Glück, dass ich hier bin«, sagte sie. »Ich wollte heute eigentlich nach Mitte fahren. Aber das Wetter.«
Er nickte. So verliefen diese Gespräche. Manchmal, wenn er Sonia besuchte oder sie spontan bei ihm auftauchte, hatte er das Gefühl, dass sie zusammenkamen, um etwas zu betrauern. Eine Trennung, von der keiner so recht wusste, warum sie überhaupt geschehen war. Ein Kind, das nie existiert hatte. Oder vielleicht einfach alles. Die Zeit eben, die verging, ohne dass irgendjemand wirklich begriff, wozu und wofür. Er sprach das nicht aus. Er wusste nicht, ob Sonia ähnlich empfand. Aber er vermutete es.
»Vielleicht fahre ich doch ein paar Tage weg«, sagte er, als er wieder aufbrach.
»Wieder zu deinem Bruder nach Italien wie im Frühjahr? Wie geht es Georg eigentlich?«
»Ich … ich weiß es nicht«, antwortete er nach einer kurzen Pause. »Ich habe länger nichts von ihm gehört.«
»Mach das. Fahr zu ihm. Letztes Mal hat es dir gutgetan. Schickst du mir eine Karte?«
Er versprach es. Dann ging er.
Als er wieder am S-Bahnhof stand, fühlte er sich leer und wie erschlagen. Er ließ drei Züge vorbeifahren. Dann stieg er ein.
Die Taschen und der Rollkoffer mit dem Material aus seiner Wohnung lagen sicher im Kofferraum seines Wagens im Parkhaus am Ostbahnhof. Für sich selbst hatte er jetzt klare Pläne. Er hatte die Situation in den letzten Stunden gründlich analysiert und seine Optionen durchdacht. Auch wenn er es nicht wahrhaben wollte: Die Situation war unabänderlich. Es gab nur einen Faktor, mit dem er absolut nicht klarkam: Elin. Sie machte ihm Sorgen. Hatte sie begriffen, wie gefährdet sie war? Oder hätte er ihr mehr erzählen, reinen Wein einschenken sollen?
Er holte das neu gekaufte Handy heraus, legte seine alte SIM -Karte ein und wählte erneut die Nummer, die er vorhin zu kontaktieren versucht hatte. Jetzt gab es ein Freizeichen. Und dann meldete sich eine männliche Stimme.
»Martin?«, sagte die Stimme.
»Wo bist du?«, fragte der Kommissar.
»Warum?«
»Es ist einiges passiert. Wir müssen reden. Wo bist du?«
Anstatt einer Antwort hörte er nur den Atem des anderen. Der Mann schnaufte schwer, als habe er sich gerade körperlich sehr angestrengt.
»Hast du es dir überlegt?«, fragte die Stimme.
»Ja«, sagte Zollanger. »Aber wir müssen reden. Alles ist komplizierter geworden. Wir müssen uns treffen.«
Wieder erfolgte eine lange Pause.
»Wo?«, fragte die Stimme.
Zollanger überlegte. Sollte er es riskieren, in die Stadt zurückzufahren?
»Also?, fragte die Stimme ungeduldig.
»Am Ostbahnhof« erwiderte Zollanger. »In einer Stunde.«
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50
W as ist denn nur los, Hajo? Bitte!«
Ulla Zietens Stimme zitterte. Zieten bat Jochen Frieser mit einer Handbewegung um einen Moment Geduld, ging mit dem Handy am Ohr in den Nebenraum und begann leise, aber eindringlich auf seine Frau einzusprechen.
Jochen Frieser saß reglos da und blickte auf die Gegenstände vor ihm auf dem Tisch. Er berührte den abgewetzten Rucksack sowie die schwarze Mönchsrobe, die daneben lag. Aber hatte er vielleicht geglaubt, die Gegenstände würden dadurch verschwinden?
Martinetti & Rea
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