Torso
schreiben Zollanger zur Fahndung aus.«
[home]
51
S ina hörte schon seit einigen Minuten nicht mehr zu. Ihr Blick war zum Fenster gewandert. Im Licht der Straßenbeleuchtung sanken Schneeflocken so langsam zur Erde, dass Sina den Eindruck hatte, sie stünden still. Oder war es der dumpfe Druck in ihrem Kopf, der diesen Eindruck erzeugte? Sie schloss kurz die Augen und versuchte sich vorzustellen, wo Zollanger sich befand. Hatte er irgendwo einen Unterschlupf, eine Wohnung, von der niemand etwas wusste? Hatte er Komplizen? Oder war er aus der Stadt oder gar aus dem Land geflohen? Sie schaute auf ihre Armbanduhr. Es war halb sechs. Seit dreieinhalb Stunden war die Welt aus den Fugen, und es sah nicht danach aus, als würde sich dieser Zustand so schnell ändern. In wenigen Minuten würde Frieser die Lagebesprechung beenden und Instruktionen geben, wie es im Fall »Torso« weitergehen sollte. Oder hatten sie es mit einem neuen Fall zu tun? Einem Fall »Zollanger«?
Sinas Blick wanderte zur Wandtafel. Sie hatte sich in den letzten zwei Stunden mit Zetteln und Diagrammen gefüllt. Mögliche Tatzeiten, Annahmen und Berechnungen zu Zollangers Bewegungsmustern. Die Indizienkette war überwältigend. In der Tat sprach alles dafür, dass Zollanger die Torsi selbst deponiert hatte. Alles war lückenlos erfasst und zu einem glasklaren Ermittlungsergebnis addiert. Blieb nur eine Frage: Warum konnte sie das alles noch immer nicht glauben? Wieso hatte sie unablässig das Gefühl, zu träumen, eine irreale Situation zu erleben, aus der sie jeden Augenblick zu erwachen hoffte? Aber sie erwachte nicht. Sie konnte nur immer wieder alle Fakten überprüfen und feststellen, dass die Tatsachen unwiderlegbar waren.
Zollanger hatte das Fahrzeug gemietet, mit dem Torso III deponiert worden war. Die Videokamera hatte sein Gesicht erfasst, als er den Rollkoffer mit den tierischen und menschlichen Leichenteilen zum Fahrstuhl befördert hatte. Sie hatte die Aufnahmen soeben selbst gesehen. Wo Frieser das Band plötzlich hergezaubert hatte, wollte der Staatsanwalt zwar nicht erklären. Thomas hatte es doch Zollanger gegeben, und danach war sein Verbleib ungeklärt. Aber Frieser hatte Krawcziks diesbezügliche Frage abgeschmettert und ihnen zu verstehen gegeben, dass weitere Nachfragen äußerst unerwünscht waren.
Die Aufstellung von Zollangers Dienstzeiten ergab genügend Zeitfenster, in denen er die Taten hätte durchführen können. Die GPS -Daten des Mietwagens waren auf dem Weg und würden gleich eintreffen. Danach wäre es ein Kinderspiel, den Wagen zu orten und die Bewegungsmuster aus den Daten herauszufiltern. Aber genau dies war es auch, was Sina nicht begriff. Zollanger wusste doch, wie mächtig die Instrumente der digitalen Überwachung heutzutage waren. Warum hätte er derart dumme Fehler begehen sollen? Es gab nur eine Erklärung dafür: sein Ausraster im Frühjahr. Seine Wiederherstellung war nur äußerlich gewesen. In seinem Inneren tobte anscheinend ein Kamikaze.
Und warum das so war, stand in seiner Krankenakte.
Frieser hatte unverzüglich sämtliche Personalakten über Zollanger angefordert. Sie waren noch vor der Dienstbesprechung geliefert worden. Sina war wie vom Donner gerührt, als Frieser daraus vorlas. Niemand hatte eine Ahnung von Zollangers Krebserkrankung gehabt. Psychologische Behandlung, ja. Das wussten alle. Er war das ganze Frühjahr nur bedingt einsatzfähig, einmal sogar mehrere Wochen krankgeschrieben gewesen. Aber die Untersuchungen im Klinikum Steglitz im April. Davon hatte niemand etwas gewusst. Verdacht auf chronische myeloische Leukämie!
Und dann das nächste Rätsel:
Der Patient erschien nach den alarmierenden Ergebnissen des Blutbildes nicht zu einer terminlich vereinbarten Knochenmarkspunktion des Beckenkamms. Wider jeden ärztlichen Rat lehnte er kurz darauf jegliche weitere Behandlung ab.
CML . Sina wusste nicht viel über diese Krankheit. Nur, dass sie schleichend und, wie die meisten Krebserkrankungen, unheilbar war. Vor allem war es keine Krankheit, die man ignorierte. Stand Zollangers Ausraster im Frühjahr auch damit in einem Zusammenhang?
Sie alle hatten bemerkt, dass es ihm nicht gut ging. Dass er müde und erschöpft wirkte, noch schweigsamer war als sonst. Sina meinte sich jetzt sogar zu erinnern, dass er selten Appetit hatte, meistens nur Wasser trank oder einen kleinen Salat bestellte, wenn sie irgendwo zusammen aßen. Noch letzten Freitag war es so gewesen.
Sina spürte Udo
Weitere Kostenlose Bücher