Torso
nicht begriffen hat. Er hat ein Dokument gefunden, eine Vorstandsvorlage der Volkskreditgesellschaft, in der diese Verflechtung genau beschrieben ist. Das Dokument ist für Außenstehende kaum zu verstehen. Ich habe einen Experten gefunden, der es mir unter dem Siegel der absoluten Verschwiegenheit erklärt hat. Und selbst der hat mir geraten, es so schnell wie möglich wieder zu vergessen …«
»Phoenix«, flüsterte Elin.
»Ja, Elin. Ein Wort, das Sie besser so schnell wie möglich wieder aus Ihrer Erinnerung löschen. Wir haben zwar einen Rechnungshof. Aber dort gibt es weder Ausnüchterungszellen für durchgedrehte Finanzminister noch Polizei, Gericht oder Gefängnis. Der Tumor regiert, Elin.«
»Was zum Teufel machen Sie dann noch hier?«, fuhr sie ihn an. »Warum erzählen Sie mir das alles? Soll mich das vielleicht trösten?«
Er schaute sie an.
»Sie haben mir vorhin wahrscheinlich das Leben gerettet, Elin. Ich schulde Ihnen also etwas. Aber ich kann nicht mehr tun, als Sie zu warnen. Verlassen Sie Berlin …«
»Und Sie?«,
schrie sie jetzt.
Er drückte ihr die Hand auf den Mund, aber sie riss sich los und starrte ihn voller Hass an. »Sie … Polizist. Sie sind doch genauso korrupt wie alle hier. Wer sagt mir denn, dass Sie mit denen nicht gemeinsame Sache machen, Sie …«
»Ich bin in der gleichen Situation wie Sie, Elin.«
»Warum? Was wollen die denn von Ihnen? Sie tun doch keinem was mit Ihrem zynischen Selbstmitleid!«
Zollanger schüttelte stumm den Kopf. Dann trat er auf sie zu und drückte ihr das neue Handy in die Hand.
»Wir sind quitt, Elin Hilger. Machen Sie, was Sie wollen. Ich habe Sie gewarnt.«
Damit machte er auf dem Absatz kehrt und lief schnell die Treppen hinab. Das Geräusch seiner Schritte entfernte sich rasch. Elin trat unschlüssig ans Fenster und schaute in den Hinterhof hinab. Eine Kirchenglocke schlug viertel. Dann sah sie ihn. Ohne sich umzusehen, ging er schnellen Schrittes durch den Innenhof und verschwand aus ihrem Blickfeld.
Sie wartete und versuchte, den Aufruhr in ihrem Kopf zu bändigen. Der Scheißbulle wusste alles und hatte nichts getan. Sie wollte aufstehen, in Erics Wohnung zurückkehren und ihre Sachen holen. Aber sie war wie gelähmt. Sie saß einfach da, starrte in den langsam dunkler werdenden Himmel hinauf und hatte keine Ahnung, was sie nun machen sollte.
[home]
48
A ivars wartete. Die Digitalanzeige seiner Armbanduhr stand auf 18:34 Uhr. Er saß also seit einer halben Stunde hier im Wagen und beobachtete die Hauseinfahrt zur Wiclefstraße 12. Aber er musste jetzt Geduld haben. Seit dem Zwischenfall mit diesem Zollanger galt eine andere Zeitrechnung. Bis zu dem Augenblick, als der Polizist ihn überrascht und überwältigt hatte, war es nur ein Auftrag gewesen. Jetzt lagen die Dinge anders. Der Auftrag bestand zwar noch immer. Aber er war nun Nebensache. Er würde ihn mit erledigen. Priorität hatte etwas anderes.
Dieser Zollanger war ein Bulle, und natürlich hatte der Mann ihn durchsucht. Aivars trug keinerlei Dokumente mit sich herum. Aber auf das Handy hatte er nicht verzichten können. Alle Informationen darin waren kompromittiert. Vor allem Zietens Nummer.
Aivars beobachtete die Passanten. Bisher hatten drei Personen das Wohnhaus verlassen und zwei es betreten. Ausnahmslos alte Menschen. Soeben tippelte eine abgerissene Oma aus der Einfahrt heraus und nahm Kurs auf einen
Plus
Markt, der sich zwei Blocks weiter befand. Täuschte er sich, oder hatte die Frau tatsächlich Pappkarton um die Beine gebunden? Aivars blickte auf die Temperaturanzeige. Minus fünf Grad. Und den Wind konnte man hören.
Der Schlag ins Genick bereitete ihm noch immer mächtige Kopfschmerzen. Aber schlimmer war sein Hals. Wenn der Tritt des Bullen anstelle des Unterkiefers seinen Kehlkopf getroffen hätte, wäre er jetzt vermutlich tot. Eins zu null, dachte er und gab sich vorübergehend einer Phantasie hin, was er mit Zollanger und dem Mädchen anstellen würde, wenn er sie gefunden haben würde. Aber erst musste er sie finden. Einen untergetauchten Berliner Bullen zu erwischen war kein Kinderspiel. Deshalb saß er jetzt hier. Vermutlich war es einfacher, zunächst die Besitzerin des Rucksacks aufzuspüren.
Er drehte zum wiederholten Mal den Personalausweis in den Händen. Elin Hilger. Geboren am 14. Dezember 1982 in Hamburg. Vierzehnter Dezember, dachte er und rechnete. Noch drei Tage bis zu ihrem nächsten Geburtstag. In jedem Fall ihrem letzten, falls
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