Torso
Botschaft Nummer drei vor. Es war, wie er fand, die interessanteste:
Pietas Vindictam Avertens.
Das Emblem stammte von Barthélémy Aneau aus dem Jahr 1552. Aivars betrachtete fasziniert die davoneilende Frau und den zurückbleibenden Mann, der sich entsetzt über den geschlachteten Leib eines Menschen beugt, dem Kopf und Gliedmaßen abgehackt worden waren. Die lateinische Bildunterschrift kommentierte den Sachverhalt. Das Emblem bezog sich auf Medeas Flucht vor Aietes. Aivars übersetzte den lateinischen Kommentar und unterstrich das Motto:
Als die Colcherin vor Aietes floh und dem Jason folgte, hielt sie den Vater, der sie verfolgte, solcherart auf: Sie zerfleischte den kleinen Apsyrtus, ihren Bruder, und zerstreute seine sterbenden Glieder hinter sich auf den Weg, so dass der fromme Vater, da er die verstreuten Gliedmaßen seines Sohnes einsammelte, aufgehalten wurde und die ruchlose Tochter fliehen konnte. Was bedeutet diese Erzählung? Wohl soviel, dass die Frömmigkeit es oft nicht zulässt, grässliche Übeltaten zu rächen.
Aivars legte die drei Bildbotschaften vor sich hin. List und Zufall? Leben und Tod? Frömmigkeit und Rache? Gab es eine Beziehung der Embleme zum Arrangement der Leichenteile?
Er begann, die Elemente aufzulisten und versuchte, Entsprechungen zu finden. Embleme waren schließlich genau das: Bilder aus einer Zeit, als man die Welt in all ihren Erscheinungen noch als erfüllt von heimlichen Verweisen und verborgenen Bedeutungen gesehen hatte.
Stand Torso I in einer heimlichen Beziehung zum ersten Emblem? Aivars ging die Tatortfotos durch und begann damit, das Internet nach allen möglichen Begriffskombinationen zu durchforsten, die sich aus den Emblemen und den Torsi herleiten ließen. Welche symbolische Bedeutung hatte der Kopf eines Ziegenbocks auf dem Leib einer Frau? Was sollte ein menschlicher Arm im Gedärm eines Lammes bedeuten? Gab es eine irgendwie geartete Beziehung zur Phoenix-Legende?
Nach kurzer Zeit hatte er zu jedem Element Dutzende von sich gegenseitig ausschließenden Bedeutungen erfasst. Schon allein die Ziege ergab jede Menge unvereinbarer Sinnzusammenhänge. Er überflog die Liste der Attribute, die er für das Tier gefunden hatte: Genügsamkeit, Fruchtbarkeit, Stärke, Heil, Leben, Wankelmut, Schwäche, Zartheit, Opfer, Bosheit, Sünde. So kam er nicht weiter. Symbolsprache war notorisch widersinnig. Arm im Gedärm eines Lammes, schrieb er. Wiedergeburt? Er lehnte sich zurück und starrte missmutig auf seine Skizzen.
Dann ließ er ein drittes Mal die Tatortfotos durchlaufen. Torso I sah aus der Ferne aus wie ein Höllenfürst. Ein Mischwesen, halb Tier halb Mensch, mit einem prächtigen blauen Umhang. Bild nach Bild erschien auf seinem Monitor, ohne dass Aivars eine Idee kam, wie er weitersuchen sollte. Dann erschien das Lamm. Was hatte es nur mit diesen umwickelten Hinterbeinen auf sich? Er zoomte die Stelle heran. Den Fotografen schien das auch interessiert zu haben. Es gab siebzehn Aufnahmen des Hinterleibes. Die Umwicklung begann im letzten Drittel des Rumpfes. Der Täter hatte festes schwarzes Textilklebeband benutzt. Stand in den Akten Genaueres? Er öffnete die Datei mit den Spurenblättern. Spur Nummer 179 enthielt, was er suchte:
LKA Berlin – 7. Mordkommission
Aktenzeichen: KAP / PS 14 537/01
Delikt: Leichenschändung
Spur Nr. 179
Ort: Club Trieb-Werk, Borsigzeile 44, Berlin Tempelhof. Anhaftung auf Tierkörper (Umwicklung von Hinterleib und Hinterbeinen eines Lammkadavers u.a. zur Fixierung eines Küchenmessers. Spur 183)
Gegenstand: 253 cm Gewebeklebeband der Marke TESA extra Power, 50 mm breit, schwarz
Datum: 07.12.2003 Uhrzeit: 08:37
Beamte(r): H. Findeisen
Er rief Spur Nummer 183 auf:
LKA Berlin – 7. Mordkommission
Aktenzeichen: KAP / PS 14 537/01
Delikt: Leichenschändung
Spur Nr. 183
Ort: Club Trieb-Werk, Borsigzeile 44, Berlin Tempelhof.
Gegenstand: Handelsübliches Spick- und Garniermesser der Marke Zwilling Twin Profection, Klingenlänge 10 cm. Der Griff des Messers wurde mittels Gewebeklebeband (179) zwischen den Hinterhufen des Lammes fixiert. Nur die Klinge ist sichtbar.
Datum: 07.12.2003 Uhrzeit: 08:39
Beamte(r): H. Findeisen
Immer wieder ließ Aivars die Bilder über den Schirm laufen. Was war das nur? Ein Lamm mit einem Stachel? Er gab »Lamm« und »Stachel« in die Suchmaschine ein. Das Ergebnis war der übliche Internetsalat. Ein Traditionsweinhaus Stachel empfahl Rhön- Lamm mit Beilage. Eine Stachel GbR
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