Torso
hielt ihre Jahresversammlung im Wirtshaus Lamm ab. Auffällig war, wie oft Jesus als Lamm Gottes auftauchte, häufig in Verbindung mit dem Stachel der Sünde oder des Todes. Aivars klickte eine der theologischen Seiten an und las den Eintrag.
O Tod, wo ist dein Stachel, o Grab, wo deine Siegesmacht? Des Todes Stachel ist die Sünde, und die Kraft der Sünde ist das Gesetz. Drum Dank sei dir Gott, der uns den Sieg gegeben hat durch Christum unsern Herrn. Würdig ist das Lamm, das da starb, und hat versöhnet uns mit Gott durch sein Blut …
Aivars verzog den Mund. Diese Art Text erfüllte ihn stets mit einem milden Ekel. Aber irgendetwas daran erschien ihm beachtenswert. Er betrachtete erneut Torso I und die Embleme. Der Täter mochte Rätsel. Und offenbar Rätsel, die sich auf ferne Jahrhunderte bezogen. Ein Torso mit Ziegenkopf. Ein Lamm mit einem Stachel. Er lud die Aufnahmen von Torso III auf seinen Bildschirm: die geflügelte Gestalt mit Tierkralle. War dies eine Harpyie? Oder die Travestie eines Engels?
Je länger er die Figuren betrachtete, desto stärker wuchs in ihm die Überzeugung, dass er in diese Richtung suchen musste. Er hatte es mit mythologischen Chiffren zu tun. Oder mit Bezügen zu Fabelwesen. Aber warum? Zu welchem Zweck? Das Spiel reizte ihn zunehmend, aber es begann ihn zu irritieren, dass er nicht vorankam. Das Lamm. Der Stachel. Das musste doch aufzulösen sein.
Er versuchte erneut mehrere Kombinationen aus den Begriffen Lamm/Schaf und Stachel. Ohne Ergebnis. Dann musterte er wieder den Hinterleib des toten Tieres. War das überhaupt ein Stachel? Ja, durchaus, aber kein gewöhnlicher. Er war schwarz und lang, sehr lang. Wie von einem Skorpion! Ein Lamm mit einem Skorpionstachel? Gab es eine solche Figur in der Mythologie? Aivars gab die Kombination ein. Die ersten Seiten führten erwartungsgemäß zur Astrologie.
Zum einen gibt es
Skorpion
geborene, die sanft wie ein
Lamm
sind …,
las er. Die nächste Eintragung war ebenso nutzlos:
Tschechische Gemeindeflaggen: Tierwelt (Löwe, Adler,
Lamm, Skorpion,
Hahn, Ziege, Hirsch, Pferd).
Doch plötzlich stutzte er: Unter einem kryptischen Eintrag, der fast nur aus Zahlen bestand, hatte die Suchmaschine einen interessanten Satzstummel gefunden:
… auf dem Schoß ein
Lamm
mit dem Schwanz eines Skorpions.
Aivars lächelte und leckte seine Oberlippe. Es war ein Tick von ihm. Eine Art und Weise, seine Emotionen unter Kontrolle zu halten. Na endlich, dachte er, und klickte zweimal auf den Link. Es war eine Dissertation. Ambrogio Lorenzettis Freskenzyklus. Universität Zürich. Das PDF -Dokument öffnete sich. Nach wenigen Sekunden hatte er per Stichwortsuche die Textstelle gefunden:
Fraus,
der Betrug, ist dargestellt als Höfling mit falscher Pfote und Krallenfüßen.
Proditio,
der Verrat, erscheint indessen mit Kopfbedeckung in der Figur des guten Bürgers, auf dem Schoß ein Lamm mit dem Schwanz eines Skorpions.
Fraus. Proditio.
Aivars begann fieberhaft, sich Notizen zu machen. Der Leichenschänder inszenierte Allegorien des Bösen. Merkwürdig. Eine Wandmalerei als Inspirationsquelle für ein Verbrechen. Der Täter erschien ihm immer interessanter.
Kurz darauf hatte er Gewissheit. Es gab keinen Zweifel. Genau hier lag der Schlüssel, auf der Wandbemalung des Rathauses von Siena. Aivars hatte kein Problem gehabt, eine Abbildung des Freskos zu finden, und zoomte nun die Einzelheiten heran. Für Torso II hatte zweifellos Lorenzettis
Proditio
Pate gestanden:
Torso III war ebenso eindeutig. Alles war vorhanden: die gezackten Flügel, die Embleme auf der Brust, die verkrüppelte Hand, die Tierkralle unter dem grünen Mantelsaum. Kein Zweifel. Auf dem Schreibtischsessel saß Seine Höllische Hoheit:
Fraus.
Betrug.
Blieb noch Torso I. Hier hatte sich der Emblem-Mörder einige Freiheiten genommen. Eine weibliche Figur mit Ziegenkopf suchte man auf dem Fresko vergebens. Aber es war durchaus ein Ziegenbock vorhanden: Er kauerte zu Füßen eines Ungeheuers. Aivars betrachtete das schielende Monstrum, dem Teufelshörner aus dem Kopf und mächtige Wildschweinhauer aus dem Unterkiefer wuchsen. Es war die zentrale Figur: Tyrannis.
Warum war er hier vom Original abgewichen?, fragte sich Aivars. War der Transport eines Torso und einer ganzen Ziege zu aufwendig? Oder hatte er es vorgezogen, den menschlichen Kopf für Torso III zu nutzen und daher Torso I abgeändert? Hieß das, dass er unter Materialknappheit litt? Wie viele Leichen standen ihm
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