Torso
zur Verfügung?
Einzeltäter?, schrieb Aivars nach einer Weile auf seinen Notizblock. Dann kam ihm sein ganzer Triumph wieder zweifelhaft vor. Wenn diese Torsi wirklich Chiffren waren, an wen waren sie adressiert? Welchen Sinn sollte es haben, derart verschlüsselte Arrangements zu erzeugen? Wer konnte dergleichen entziffern? Oder war es ein geisteskranker Täter, Bewohner einer grotesken Phantasiewelt, in der diese Monstren erzeugt wurden?
Und wer war der Täter? War er jung? Alt? Männlich? Weiblich? Aivars schaute sich erneut die Embleme an. Plötzlich kam ihm eine Idee. Er loggte sich in eine Datenbank ein und stellte eine Reihe von Datensätzen zusammen. Es war ein Schuss ins Dunkle. Ein Versuch. Aber dieser Täter war nicht jung. Er war alt. Seine Symbolsprache hatte wenig mit der heutigen Welt zu tun. Also würde er auch nicht die Instrumente der Gegenwart benutzen.
Nach kurzer Zeit hatte er achtundzwanzig Datensätze zum Stichwort »Ambrogio Lorenzetti« gesammelt. Er ging zum Telefon, führte ein kurzes Gespräch und gab die Daten durch. Dann wartete er. Er trank einen Kaffee, spazierte nachdenklich durch das schöne Büro, das Zieten ihm zur Verfügung gestellt hatte, kehrte jedoch immer wieder an seinen Schreibtisch zurück, um sich das Fresko anzuschauen.
Um 11:34 Uhr meldete sein Computer eine neue E-Mail. Er öffnete sie und überflog die Nachricht, die sein Hacker ihm geschickt hatte. Es war die gleiche Liste, die er vor zwanzig Minuten durchgegeben hatte. Aber unter jedem Datensatz standen nun Nummern, Daten und Namen. Er überflog die Namen. Und plötzlich begann er zufrieden zu grinsen. Das war unmöglich. Und doch war es so. Er griff nach den Ermittlungsakten, um sicherzugehen, dass er sich nicht geirrt hatte. Aber es gab keinen Zweifel. Er hatte ins Schwarze getroffen. Wahrhaftig! Ein echter Insider! Wie heimtückisch. Wer wäre darauf gekommen. Er erhob sich wieder, streckte sich und blickte auf die Uhr. Viertel vor zwölf. Nicht schlecht für einen kurzen Vormittag. Dann ging er zur Tür, um Zieten und die anderen hereinzurufen.
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39
W arum wollte Frieser unbedingt die Haarprobe? Hast du dafür eine Erklärung?«, fragte Sina.
»Nein, du?«
Sie schaute Zollanger von der Seite an. Dann versank sie in Grübeleien. Die Bilder der letzten Nacht spukten ihr im Kopf herum. Sie hatten noch gar keine Zeit gehabt, sich darüber auszutauschen. Hatte der Besuch in diesem Trieb-Werk sie irgendwie weitergebracht? Wie mochte das Treiben dort auf Zollanger gewirkt haben? War er davon geschockt? Wie wirkte so etwas auf jemanden aus seiner Generation? Sie selbst war wenig überrascht gewesen von dem, was sie dort gesehen hatte. Aber sie hatte den Vorteil, dass sie mit einem Psychologen verheiratet war, der auch einmal mit dem Gedanken geliebäugelt hatte, als Sexualtherapeut zu arbeiten. Hendrik hatte ihr mehrfach geschildert, was sich heutzutage in solchen Clubs abspielte. Das Thema hatte ihn schnell angeödet, und er war bald darauf auf Kinderpsychologie umgestiegen. So war der gestrige Abend für sie nur insofern erhellend gewesen, als sie ihren Mann nun besser verstand.
Aber wie stand es mit dem Torso-Mörder? Waren sie ihm durch den Besuch näher gekommen? Sie wollte es nicht zugeben, aber der heutige Fund hatte sie ziemlich verunsichert. Wer immer diese Objekte deponierte, schien einen klaren Plan zu haben, was Zeit, Ort und Art der Taten betraf. Und für keinen dieser drei Parameter hatte sie auch nur den Ansatz einer Erklärung. Die zeitlichen Abstände sagten wenig aus. Die Orte wiesen keinerlei Gemeinsamkeit auf. Willkürlich waren sie jedoch offenbar nicht, denn es war riskant, die Torsi dort zu deponieren. Tatrisiken bargen immer Ansätze für ein Motiv. Doch was war mit den Objekten selbst? Wer sollten diese Wesen sein? War es der Gedanke an Hendrik, der sie jetzt darauf brachte, dass es Märchenfiguren sein konnten, Monster, wie Kinder sie sich in Alpträumen zusammenphantasierten? Ja, bei allem Grauen sprach etwas Simples, Ursprüngliches aus diesen Arrangements. War das eine Richtung, in die sich weiterzudenken lohnte? Oder ging sie viel zu analytisch vor, wie Udo ihr immer vorhielt? Verlor sie die Banalität des Verbrechens aus dem Auge, das Primitive, Einfache, Kurzschlussartige des Bösen, das oft gar keine wirkliche Tiefe oder Komplexität hatte?
Zollanger bremste scharf und riss sie aus ihren Gedanken. Die Straße war plötzlich verstopft. Berufsverkehr. Er wartete einige
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