Torstraße 1
nicht an Auferstehung und Wiedergeburt glauben. Nicht daran glauben können, weil sie, wenn sie es doch einmal tun, zugleich deutlich spüren, dass sie daran glauben, weil sie es glauben müssen. Weil man es sonst nicht aushalten kann als zum Tode verurteilter Mensch. Vielleicht gibt es ein Leben nach dem Tod, denkt sie nun, aber nicht als Mensch. Nicht mit Musik, die in Bauch und Beine fährt, einem Schwips, der den Kopf verdreht, mit Küssen, die die Knie erweichen, und Freundschaften, die den ganzen Irrsinn überdauern. Nicht mit Elsie und Elsa, nicht mit Berlin und bestimmt nicht mit Harry. Was nützt es ihr da, dass keine Energie verloren geht, wie manche sagen, und sie mit etwas Glück als Kugelblitz durchs All schwirrt? Oder als Kurzschluss ein Kabel durchschmort?
Ihre Wohnung ist schon ein wenig leerer geworden, das eine oder andere hat sie unauffällig verschenkt. Zum Beispiel den Fernseher. Sie würde lieber wie früher Radio und Schallplatten hören, hat sie behauptet, und manchmal tut sie das auch. Oft schaut sie einfach auf die kahle Wand, wo früher der Fernseher stand. Manchmal laufen da Filme aus ihrem Leben ab, nicht im Zeitraffer, sondern in voller Länge. Gestorben ist sie noch nicht, aber die Filme sind schon da, auf der kahlen Wand oder im Kopf. Meist hält sie es nicht lange aus und versucht, das Programm zu wechseln, auszuschalten. Nicht immer gelingt es.
Vielleicht ist es besser, man schläft plötzlich und unerwartet ein, so wie Wilhelm. Alle wurden von seinem Tod überrascht, auch er selbst. So hat es jedenfalls Bernhard erzählt, der dabei war. Bernhard konnte es lange nicht fassen. Immer wieder musste er es erzählen, vor und während der Beerdigung, obwohl er sonst eher ruhig und verschlossen war. Wie er im Wohnzimmer den Tisch gedeckt hat, leise, damit Wilhelm nicht wachwürde. Eine Kerze auf den Tisch gestellt hat, zwei Untersetzer für die Töpfe, Biergläser aus der Schrankwand. Wie das Szegediner Gulasch, das Wilhelm so gern mochte, dampfend auf dem Herd stand und er sich gefragt hat, wie er es warm halten und ob er den Vater wecken sollte. Und ihn dann nicht wecken konnte, weil Wilhelm tot war. Gestorben, während er nebenan im Topf rührte und nichts davon ahnte. Er war zurück ins Wohnzimmer gegangen, hatte zwei Teller mit Gulasch gefüllt und gewartet. Sie hätte Bernhard gerne gefragt, ob er das Gulasch, Stunden später vielleicht, gegessen hat, und wenn ja, beide Teller oder nur einen. Manchmal denkt sie, dass Wilhelms Teller vielleicht noch immer auf Bernhards Tisch steht.
Kurz vor seinem Tod war Wilhelm noch einmal mit Bernhard zum Haus gegangen. Ob er doch etwas geahnt hat und ebenfalls eine Sache zu Ende bringen wollte? Ob er endlich seinem Jungen erzählt hat, was er im Haus hinterließ, als er dort unter Trümmern begraben lag? Als nur der Gedanke an seinen Sohn ihn am Leben hielt, den ungeborenen Sohn, der einmal Bernhard heißen sollte? Auch ihr hat Wilhelm nie verraten, was genau bei dem Unfall beim Bau des Kaufhauses passiert war. So wie sie ihm nie verraten hat, wer der Vater des Kindes war, das er mit auf die Welt geholt hat. Beide hatten sie ihr Geheimnis um das Haus und die Kinder bewahrt. Es genügte zu wissen, dass auch der andere eines hatte. Das war ein Band zwischen ihnen, bis zuletzt.
Wenn man nicht überraschend, nicht plötzlich aus dem Leben genommen wird wie Wilhelm, hat man die Angst und die Stunden allein, die nicht mitteilbar sind. Aber man hat auch die Gelegenheit, seine letzten Dinge zu regeln. Die Dinge, von denen man weiß, dass man sie tun muss, um Ruhe zu finden. Wo und wie auch immer.
Extra zu diesem Zweck hat sie den Kassettenrekorder gekauft. Obwohl sie immer gedacht hat, so ein Teil käme ihr nicht insHaus. Sie hat noch immer ihren alten Plattenspieler und natürlich das Grammofon. Was waren diese eckigen Plastikdinger mit ihren groben Tasten gegen einen Arm mit feiner Diamantnadel und schwarz glänzende Scheiben, die Musik in schmalste Rillen eingraviert. Wie die Lebensringe eines Baumes, hat sie gedacht, und die Kratzer auf den Scheiben sind die Spuren der Jahreszeiten. Der Kratzer auf der Platte, die nun ganz oben auf dem Stapel neben dem Grammofon liegt, ist nicht nur die Spur einer Zeit. Für sie ist er wie ein Schriftzug, den sie heute, nach sechzig Jahren, plötzlich entziffern kann. »Frühling«, steht da. Nur ist es, entgegen der landläufigen Meinung, eine Jahreszeit, die nicht wiederkehrt. Alle anderen schon. Diese
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