Torstraße 1
zu unterhalten? Sie hatte Hanns vorgewarnt und sich auf das Schlimmste gefasst gemacht. Und dann stand diese gut aussehende, dunkelhaarige Frau in der Tür. Eine kluge, erwachsene, Stephanie von ganzem Herzen zugetane Frau. Elsa seufzt. Ihre Tochter ist schon immer für eine Überraschung gut gewesen.
»Wie kommst du jetzt darauf«, will Hanns wissen, »wollen sich die beiden etwa auch trennen?«
»Im Gegenteil.«
»Im Gegenteil?«
Stephanie steht mit Katia und Tobias in der Tür. »Wir sind so weit.«
Alle schleppen die Taschen und Tüten zum Auto, die sich seit der Ankunft wie die Kaninchen vermehrt zu haben scheinen. Die Kinder steigen hinten ein, und Stephanie prüft, ob beide richtig angeschnallt sind. Sie legt eine Kassette ein und kurbelt das Fenster herunter. Musik für Kinder, wo sie die wohl herhat? Elsa und Hanns stehen bei der Abfahrt am Gartentor, Stephanie und die Kinder winken lachend zurück.
Als Hanns ins Haus gegangen ist und sie noch immer winkend am Tor steht, das Auto bereits ein kleiner Punkt in der Ferne, schießt ihr dieser Satz durch den Kopf. »Die einen kommen, die anderen gehen.« Die Verabschiedung ihrer Mutter von Stephie an ihrem Geburtstag. »Die einen kommen, die anderen …« Elsa schließt das knarrende alte Gartentor und schiebt den Riegel vor.
Vicky fühlt sich erschöpft, erschöpft bis in die Knochen, aber diese Sache muss sie noch zu Ende bringen. Alles andere ist, soweit sie es überblickt und sofern es sich regeln lässt, geregelt. Alles andere scheint ihr auch nur halb so wichtig: Wer was von ihren paar Habseligkeiten erhält und wo genau sie unter die Erde kommt, wie lange sie dort liegen darf und wer die Blumen über ihrer bald nicht mehr vorhandenen Nase gießt. Nur Berliner Erde muss es sein, da gibt es jetzt nichts mehr zu verpflanzen. Nicht dass noch jemand auf die Idee kommt, sie in die alte Heimat zu verlegen. Ihre alte Heimat, in die sie nie zurückgekehrt war. Wenn man sie als Lebende dort nicht wollte, mit ihrem Leben, so wie es war, brauchte man sie auch tot nicht heimzuholen.
Auf dem Dreifaltigkeitskirchhof hat sie mit Elsie ein Grab ausgesucht und einen Stein. Leo liegt dort ebenfalls begraben, einige Reihen entfernt bei seiner ersten Ehefrau. Das gemeinsame Grab der beiden war schon gekauft, als sie in Leos Lebennoch keine größere Rolle spielte als die seiner Beraterin in Kleidungsfragen im Kaufhaus des Westens. Sie hat nichts dagegen gehabt, dass es bei diesem Arrangement blieb, immerhin war die erste Ehefrau fast dreimal so lange mit Leo verheiratet gewesen wie sie. Sie hoffte nur, dass diese Ehefrau nicht wieder Gelegenheit bekam, ihren Modegeschmack an Leo auszulassen. Doch Elsie meinte, in der Hölle sei es zu heiß für Mode.
Elsie will später neben ihr liegen und hat auch schon einen Platz reserviert. Nach einem Blick auf das Nachbargrab hat sie gesagt: »Na, eine feine Nachbarschaft hast du da ausgesucht. Jaja, die einen legen sich Schmuck und Waffen fürs Jenseits bereit …« Zuerst hat sie gar nicht verstanden, was Elsie ihr sagen wollte. Bis sie die Inschrift auf dem alten Grabstein gelesen hat: Karl Gilka, Likörfabrikant. »Ach, der«, hat sie erwidert. »Den brauchen wir nicht mit seinem Gilka-Kümmel. Das Gute ist, der Dreifaltigkeitskirchhof liegt auf einem ehemaligen Weinberg.« Da war Elsie für einen Moment stumm gewesen. Es gab tatsächlich ein paar Dinge, die auch sie noch nicht wusste.
Später, dort vor dem Grab, auf dem einmal ein Stein mit ihren beiden Namen stehen wird, hat sie Elsies Hand genommen. »Du brauchst dich nicht zu beeilen«, hat sie gesagt, »auch wenn du hundert wirst, werd ich dich nicht vergessen.« Und Elsie hat ihre Hand gedrückt und geantwortet: »Du musst es auch nicht überstürzen. Werd doch mit mir hundert.« Selbst wenn es in diesem Moment verlockend schien, war sie nicht sicher, ob sie das gewollt hätte. Aber sie war sicher, es würde nicht so sein. »Die Uhr ist abgelaufen«, hat sie gesagt. Als ob der Sand immer schneller durch sie hindurchrieselte, so fühlte es sich an, die Beine wurden bleiern, und der Kopf war beinahe leer. Und als sie es dort, vor dem eigenen Grab, wieder spürte, bekam sie es mit der Angst.
Jetzt in dieser Nacht, allein in ihrer Wohnung, denkt sie, dass es gar nicht anders sein kann. Man bekommt es mit derAngst, wenn man es weiß. Da können sie einem erzählen, was sie wollen. Selbst die Gläubigen zittern, wie soll es da erst den Gottlosen gehen, Menschen wie ihr, die
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