Torstraße 1
Geburtstagskind umgedichtet. »Vik-to-ria, die Welt ist grün …«, stimmen alle ein. Ob es das ist, was ihre Mutter immer aufgekratzter werden lässt? Oder der nicht mehr gewohnteAlkohol, den sie im Laufe des Abends zu sich nimmt? Elsa hat aufgehört, die Gläser zu zählen. Vicky wirkt auch nicht betrunken, eher irgendwie … fiebrig. Immer wieder will sie tanzen, zieht Ferdinand und Elsie und Klaus aus dem Sessel, obwohl ihre Beine zittrig sind und die Wangen unnatürlich gerötet. Erschöpft und überdreht kommt sie ihr vor, wie ein Kind, das sich mit letzter Kraft gegen das Einschlafen aufbäumt.
In einer Pause zwischen zwei Stücken geht Elsa zu Jonas und flüstert ihm zu, er solle bald Schluss machen. Doch während die Musiker ihre Instrumente einpacken, schenkt Vicky sich und den anderen neuen Wein ein und denkt nicht daran, die Feier für beendet zu erklären. Immer wieder schaut sie ihre Gäste, wenn sie sich unbeobachtet glaubt, lange an, als wollte sie jeden ihrer Gesichtszüge auswendig lernen. Sie beschwören, verhexen.
Elsa ist erleichtert, als Ferdinand nach Mitternacht ein Taxi ruft und damit das Signal zum Aufbruch gibt. Es war ein langer Abend für einen einundachtzigsten Geburtstag. Ein ungewöhnlicher Geburtstag. Wie in einem Schnelldurchlauf sieht Elsa eine Reihe von Vickygeburtstagen vor sich, melancholische und schweigsame, theatralische und betrunkene, aber keinen so heiteren und ausgelassenen wie den heutigen – vielleicht in ferner, versunkener Zeit, als sie selbst noch ein kleines Kind war.
An der Tür verabschiedet sich Vicky einzeln von ihren Gästen. Sie schließt Klaus fest in die Arme, flüstert ihm etwas ins Ohr, bis er sich abwendet und ins Taschentuch schnäuzt. Auch Stephanie, mit der Vicky so manche politische Auseinandersetzung geführt hat, wird innig gedrückt.
»Die einen kommen, die anderen gehen«, sagt Vicky leise zu Stephanie. Elsa hat es gehört und fragt sich, wer wohl um diese Uhrzeit noch kommen sollte, als sie von ihrer Mutter umarmt und mit einem Kuss bedacht wird. Einem Kuss auf die Nasenspitze, wie sie es als Kind geliebt hat. Das hatte sie beinahe vergessen. Wie sie damals mit ihrer Mädchenstimme jauchzte,»noch mal, noch mal«, und jedes Mal musste die Mama ein bisschen lauter dabei schmatzen. Schon liegt ihr ein »noch mal« auf den Lippen, da macht Vicky sich sanft von ihr los. Sie hält sie ein wenig von sich weg und schaut ihr ins Gesicht, als wolle sie sich jede Einzelheit einprägen. Dann tritt sie in ihre Wohnung zurück und legt einen Arm um Elsie.
»Jetzt schwelgen wir noch ein bisschen in alten Zeiten«, sagt Elsie. Sie und Vicky schauen einander an, dann auf die im Treppenhaus versammelte Familie. Um die Lippen der beiden alten Frauen spielt das gleiche seltsame Lächeln. Sie winken von oben herab, als stünden sie an der Reling eines Ozeandampfers, der jeden Augenblick auslaufen wird.
Die Koffer sind gepackt, die Ferien zu Ende, die Kinder fahren zurück nach Berlin. Stephanie ist nach Lübars gekommen, um Katia und Tobi abzuholen. Sie sollen bei ihr und Nick wohnen, bis Jonas und Sabine sich ausgesprochen haben. Oder ausgeschrien, wie alle befürchten, das will man den Kindern ersparen. Dennoch wundert sich Elsa über das Angebot ihrer Tochter, die bisher kein allzu großes Interesse an Neffe und Nichte oder Kindern im Allgemeinen gezeigt hat. Eher schienen gelegentliche Ausflüge und Treffen von Nick auszugehen. Doch Katia und Tobi waren sofort einverstanden, als Stephanie erzählt hat, dass es bei ihnen im Gemeinschaftsgarten Kaninchen gibt, mit denen sie spielen dürften. Kaninchen – die gab es nicht mal in Lübars. Und den Kleinen, die bald geboren würden, dürften sie Namen geben. »Wenn ein weißes dabei ist, nennt es Grace«, hat sie die beiden gebeten. Da haben sie ihre Oma mit großen Augen angesehen und genickt.
»Wenn Jonas so weitermacht, buchten sie ihn auch noch ein«, sagt Stephanie nun zu Elsa, während sie vor der Abfahrt einen letzten Gang durch das Dorf machen. In den Vorgärten blühen Osterglocken, an manchen Sträuchern baumeln noch ausgeblasene,bemalte Eier. »Er will jetzt ohne Visum rüber, Luise und Uwe treffen. Irgendwas aushecken zum Boykott der Kommunalwahl. Ich hab ihn gefragt, ob er sich in einen Kofferraum legen oder in umgekehrter Richtung über die Mauer klettern möchte. Und stell dir vor, da fängt er ernsthaft an, darüber nachzudenken.«
Am Ortsrand stehen Pferde und Ponys auf den Wiesen. Katia und
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