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Torstraße 1

Torstraße 1

Titel: Torstraße 1 Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sybil Volks
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Tobi kennen die meisten mit Namen. Elsa denkt an die Kinder, die immer noch nicht wissen, dass ihre Eltern sich trennen wollen. »Es gibt wirklich anderes, über das er sich Gedanken machen sollte!« Sie schluckt die aufsteigenden Tränen hinunter und fragt ihre Tochter: »Bist du sicher, dass ihr mit den Kindern klarkommt? Oder sollen wir sie nehmen? Ich meine, mit eurer Arbeit und allem …«
    »Da können wir schon mal üben.«
    »Üben?«
    Stephanie lacht. »Ja, auch wenn die beiden schon länger aus den Windeln raus sind.«
    Gleich hinter dem Dorf fängt das Tegeler Fließ an. Die Wiesen sind im Frühjahr noch feuchter als sonst, überall ziehen sich Rinnsale durchs Gras und vereinzelte Senken. Hier muss man auf jeden seiner Schritte achten.
    »Wir bekommen ein Kind«, sagt Stephanie.
    Elsa versucht, sich auf den Weg zu konzentrieren, vorsichtig setzt sie Fuß vor Fuß. Nur nicht in ein Wasserloch treten. »Wir?«
    »Nick und ich«, sagt Stephanie und springt über einen Wassergraben.
    Elsa setzt ihr nach und wäre beinahe im Graben gelandet. »Du und – Nicole?«
    Stephanie wirft ihr einen ungeduldigen Blick zu. »Bekommen werd ich es. Eigentlich wollte Nick, aber bei ihr hat’s nicht geklappt. Und da wir beide bald vierzig werden …«
    Elsa bleibt stehen, sofort beginnt sie im matschigen Boden einzusinken. Das Wasser dringt durch die Schuhe. »Nein«, schreit sie, »das geht nicht! Ihr könnt nicht!«
    »Offenbar können wir«, sagt Stephanie und zieht die Hand zurück, die sie ihrer Mutter entgegengestreckt hat, um ihr wieder auf trockenen Boden zu helfen. »Bei mir ging’s ruckzuck.«
    Schweigend marschieren sie hintereinander her, immer weiter über den nassen Grund, bis sie fast an die Grenze kommen. Noch immer schweigend kehren sie um, wenden der Grenze den Rücken und nehmen den Weg, den sie gekommen sind, zurück ins Dorf. Kurz bevor sie die ersten Häuser erreichen, sagt Stephanie leise: »Freust du dich gar nicht, Mama? Du bekommst ein Enkelkind.«
    »Wer ist der Vater?«
    »Ist das alles, was dich interessiert? Ich bin die Mutter, das ist die Hauptsache.«
    Elsa bleibt an der Pferdekoppel stehen und hält Ausschau. Der Braune mit der weißen Blesse ist heute nicht da. Sie tätschelt dem dicken Pony den Hals, den es über den Zaun streckt. »Was weißt denn du?«, sagt sie und holt einen kleinen Apfel aus der Tasche. »Du hast einen Vater. Ich nicht.«
    »Du hattest einen Stiefvater. Einige Jahre …«
    Das Pony zermalmt den Apfel, der Saft tropft ihm zu beiden Seiten aus dem Maul. Zwei andere Ponys kommen angetrabt. Elsa durchwühlt ihre Tasche nach weiteren Äpfeln, doch da ist keiner mehr. »Helbig war nicht mein Vater, und ich war nicht seine Tochter. Er hat mich gehasst. Ich war froh, als er tot war.«
    »So hast du das nie erzählt.«
    »Ihr müsst dem Kind sagen, wer der Vater ist. Egal wer. Ich hab mir so lange den Kopf über meinen zerbrochen. Zerbreche ihn mir bis heute. Selbst wenn’s ein alter Nazi gewesen wäre, ein richtiger Hauptnazi, nicht nur ein Mitläufer und Emporkömmling wie Helbig. Selbst das wär besser zu ertragen …«
    Stephanie schüttelt den Kopf. »Da bin ich nicht sicher. Gerade erst hab ich eine Studie gelesen über Söhne und Töchter von Tätern des Dritten Reiches und wie sie bis heute …«
    »Ihr müsst es dem Kind sagen.«
    Zurück im Dorf, wenige Meter vor ihrem Haus, sagt Stephanie: »Es tut mir leid, Mama, deinetwegen. Aber wir wissen es nicht. Nick wollte es so.« Ein Auto rumpelt über das Kopfsteinpflaster, ihre letzten Worte gehen im Lärm unter. »Wenn das Kind erwachsen ist und es will, kann es den Namen erfahren.«
    »Ist was?«, fragt Hanns, als er einen Moment mit Elsa allein in der Küche steht. Stephanie hilft den Kindern, ihre in Haus und Garten verstreuten Sachen einzusammeln und in die Reisetaschen zu verstauen. Elsa belegt Brote für die Fahrt nach Berlin.
    »Erinnerst du dich«, sagt sie zu Hanns, »wie wir Nick kennengelernt haben?«
    Vor dem ersten Treffen hatte Stephanie nur ihre große Liebe angekündigt, und dass es dieses Mal todernst wäre. Elsa war gespannt, was für einen schrägen Typen sich ihre Tochter jetzt eingefangen hatte. Vielleicht noch einen hauptberuflichen Weltverbesserer, der von Stephies im Schweinesystem verdienten Geld lebte? Oder ein Autonomer wie der Letzte, dessen Autonomie, soweit Elsa das erkennen konnte, darin bestand, in jedem besetzten Haus zwei Frauen und drei Kinder zu unterhalten – beziehungsweise nicht

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