Torstraße 1
wollte, aber seitdem hat sie oft über diesen Satz nachgedacht. Schrieb Bernhard Propaganda oder einfach aus einer anderen Perspektive? Sie hat lange, sehr lange nichts von ihm gelesen. Und wenn sie ihm jetzt wieder begegnet, wird sie dann mit ihm über seine Tochter und ihren Sohn sprechen können, ohne politische Diskussionen, aus der Perspektive von Eltern, die sich um ihre Kinder sorgen? Aus der Perspektive lebenslanger Freunde?
In der bronzenen Glasfassade des Palastes der Republik spiegelt sich der Berliner Dom. Egal aus welcher Perspektive, ihr gefällt der Republikpalast besser als der Dompalast. Aber das wird sie weder ihrer Mutter erzählen, die darüber empört, noch ihrer Tochter, die begeistert wäre. Von diesem Dom-im-Republikpalast-Spiegelbildmuss sie jetzt eine Aufnahme machen, die gehören ja beide nicht zu den Verkehrsbauten. Mit den Regeln und Verboten des Fotografierens kennt sie sich aus, seit sie wegen eines Brückenbildes einen ganzen Film an einen Volkspolizisten verloren hat – keine Grenzsicherungsanlagen, Bahnanlagen, Brücken, Verkehrsbauten.
Auf dem Marx-Engels-Forum setzt sich Elsa auf eine Bank mit Blick auf die Bronzestatuen von Karl Marx und Friedrich Engels und holt den Stadtplan aus der Tasche. Wenn sie Bernhard nach Dienstschluss vor dem Eingang abfangen will, ist sie vermutlich zu früh dran. Vielleicht ist er auch gar nicht im Institut, sondern in der Redaktion. So nannte Bernhard seine Arbeitsplätze, seit sie sich erinnern kann, das Institut, die Redaktion. Aber das Gebäude hieß nicht Institut, sondern Haus. Das Haus, unser Haus. Manchmal auch das Jonass. Wenn er heute Nachmittag beim Neuen Deutschland ist, wird sie ihn vor dem Haus der Einheit nicht treffen. Aber sie ist fast sicher, dass er heute in ihrem Haus ist. Vielleicht bloß Wunschdenken, sagt sie sich und schlägt den Stadtplan auf, um nach einem Schlenker zu sehen, einem Umweg rechts oder links der breiten Karl-Liebknecht-Straße, an deren Ende das Haus wartet. Etwas Zeit gewinnen. Was für ein seltsamer Gedanke. Aufgeregt ist sie vor diesem Wiedersehen nach der langen Zeit, das schon, aber sie freut sich doch auf Bernhard, oder nicht?
Elsa streicht den Stadtplan in ihrem Schoß glatt. An den weißen Fleck wird sie sich nie gewöhnen. Den unregelmäßigen weißen Fleck, der im Ostberliner Stadtplan Westberlin darstellte. Das fehlende Puzzleteil nennt sie ihn, seit der Geschichte mit Jonas und dem missglückten Fluchtversuch, an dem er beteiligt war. Auf die Frage, warum sie flüchten wollte, hatte die junge Frau gesagt: »Ich suche das fehlende Puzzleteil.« Schon als Kind, als sie zum ersten Mal so einen Plan in der Hand hielt, habe der weiße Fleck eine bohrende Neugier in ihr ausgelöst. Die leuchtendstenFarben hätten nicht verlockender sein können als dieser weiße Fleck, hat sie gesagt, den sie sich seitdem ausmalte. Als Jonas das hörte, wollte er der Frau zu ihrem fehlenden Puzzleteil verhelfen. Sie würde natürlich enttäuscht sein, hat er gedacht, dass sich auch durch das Puzzleteil nicht alles zu einem guten Ganzen fügte, und weitersuchen in der Welt, die ihr endlich offenstand. Ein Mensch wie sie ging zugrunde hinter Mauern. An dieser Stelle hat er angefangen zu weinen, als er Elsa davon erzählte, nachdem die Sache schon schiefgegangen war. Vorher wusste sie nicht einmal, dass ihr Sohn bei so etwas mitmacht. Es sei auch das letzte Mal gewesen, hat er gesagt. Die Frau sitze jetzt im Knast. Er warte nur darauf zu hören, sie habe sich umgebracht. Später hat sie ihn gefragt, ob er wisse, was aus der Frau geworden sei. »Sie lebt noch«, hat er gesagt, »und ist wieder frei. Sie haben sie umgedreht.« Elsa faltet den Plan zusammen. Der weiße Fleck macht ihr plötzlich Angst. Was, wenn sie den Weg dorthin nicht mehr findet?
Das Haus erkennt Elsa, noch bevor es auftaucht, an ihrem schneller schlagenden Herzen. Noch nie hat sie sich dem Haus ohne Herzklopfen nähern können. Wenn es ausbleibt, denkt sie, bin ich wahrscheinlich tot.
Es ist erst kurz vor halb fünf, als sie die Kreuzung zur Wilhelm-Pieck-Straße überquert. Bernhard wird sicher noch nicht herauskommen. Sie stellt sich auf die Straßenseite, die dem Haupteingang des Gebäudes gegenüberliegt, mit dem Rücken zum Nikolaifriedhof. Seit Jahren ist sie nicht hier gewesen, die wenigen Male, die sie Bernhard gesehen hat, haben sie sich auf seinen Wunsch an anderen Orten getroffen. Als ob er es vermeiden wollte, seit ihrer Nacht im Haus,
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