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Torstraße 1

Torstraße 1

Titel: Torstraße 1 Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sybil Volks
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wieder mit ihr dort zu sein. Als könnte allein ihrer beider Anwesenheit unter diesem Dach zu Dingen führen, die man außerhalb seiner Mauern für falsch halten muss, auch wenn sie im Inneren richtig scheinen.
    Und sie möchte jetzt nicht hineingehen und nach ihm fragen. Sie möchte, dass er herauskommt, sie hier stehen sieht und überrascht ist, auf die für ihn typische leicht alarmierte Weise, und dass sich mit jedem Schritt, den er auf sie zumacht, seine Überraschung in Freude verwandelt. Während sie sich diese Szene ausmalt, wächst eine gespannte Erwartung in ihr, eine frohe und ganz unpassende Erwartung. Schließlich ist sie gekommen, um mit Bernhard eine Art Krisengespräch zu führen. Ein Gespräch, das sich um ihre Kinder und nicht um sie dreht. Eines, in dem sie beide einen kühlen Kopf brauchen und kein immer höherschlagendes Herz.
    Vielleicht ist das milde Licht schuld, das Gezwitscher der Vögel und die weiche Luft, dass es sich beinahe wie ein Rendezvous anfühlt, gemischt mit dem Duft alter Erinnerungen. Erinnerungen an einen Abend im Juni, an dem sie tatsächlich zum Rendezvous mit Bernhard hierhergekommen war, auch wenn sie es vorher selbst nicht wusste – doch danach war es ihr erschienen, als hätte es für sie zu dieser Stunde gar keinen anderen Weg gegeben als ebenjenen in Bernhards Arme. Und lange vor dieser Juninacht gab es einen Frühjahrsmorgen, als sie an ebendieser Mauer lehnte, erfüllt von Furcht, Glück und Übelkeit. Heute wie vor vierzig Jahren sprießen hellgrüne Blättchen an den Zweigen, die über die Friedhofsmauer wachsen. Damals hatte sie mit dem Kind im Bauch das Haus ihrer Kindheit betrachtet, über dessen Fassade in langen Bahnen rote Banner liefen. Das Kreditkaufhaus ist gekommen und gegangen, hatte sie gedacht, die Zentrale der Hitlerjugend ist gekommen und gegangen, das Zentralkomitee der SED ist gekommen und wird ebenfalls wieder gehen. Lange kann auch dieser Spuk nicht dauern. Die roten Banner sind verschwunden, doch der Spuk dauert schon vier Jahrzehnte, und ein Ende ist nicht in Sicht.
    Vielleicht lag es nicht nur an Bernhard, dass sie sich seit jener Nacht nicht mehr im Haus der Einheit getroffen haben. Vielleichtwollte sie sich den Anblick des Hauses ersparen. Das, was im Inneren daraus geworden war, aus dem Palast ihrer Kindheit, dem zur großen Fahrt bereiten Schiff ihrer Jugend. Eine kleinteilige Welt enger Büroräume mit abgehängten Decken, holzverkleideten Einbauschränken, Efeutapeten und Neonleuchten, Glasbausteinen und Spitzengardinen. Wo im Kaufhaus Jonass weite Hallen voller Schätze waren und die oberen Etagen wie Labyrinthe, hatte man Wände eingezogen, ganze Fluchten einander gleichender Büros, endlose Flure, in denen sich Tür an Tür reihte. Haus der Kleinheit, hat sie das umgebaute Haus einmal genannt. Und doch liebte sie ihr Haus deshalb nicht weniger, war nur wütend auf die wechselnden Machthaber, die ihm ein falsches Leben aufzwangen, wütend zuweilen sogar auf das Haus, das alles so ungerührt mit sich machen ließ. Sie denkt an den Brief, den sie Bernhard geschrieben hat, als es für einige Jahre unmöglich war, ihr Haus zu besuchen. Beschreib mir unser Haus, Bernhard. Von unten bis oben, von außen und innen, im Großen und im Kleinen. Auch das, was du nicht mehr siehst, weil du es jeden Tag sehen kannst. Alles, ich will alles wissen.
    Ein paar Jahre später hätte sie vielleicht wieder hineingekonnt, indem sie Bernhard überredete, sie unter einem Vorwand einzuschleusen. Aber Bernhard hatte ihr versichert, dass sich dort nichts getan hatte. Nichts, was für sie interessant sein könnte. Und jetzt denkt sie, dass sie ihn nicht gefragt und überredet hat, weil sie das Haus nicht noch einmal sehen wollte in diesem Zustand, in dem sich nichts veränderte. Das war ja schon Altersstarrsinn, und dabei war es nicht älter als sie selbst, gerade mal sechzig Jahre. Und bei ihr veränderte sich noch immer eine ganze Menge.
    Dieses Haus, da ist sie ganz sicher, während nun der Wind die Zweige hinter ihr schüttelt, dass die hellgrünen Blätter tanzen, braucht ein neues Leben, so wie sie, als sie vor zwanzig Jahren Bernhard den Brief schrieb. Eine Scheidung, eine Krise und dannhinaus ins Leben – eine neue Liebe, ein neuer Name, neue Aufgaben. Doch nichts deutet darauf hin, dass es hier nicht fünfzig oder hundert Jahre so weitergehen könnte. Fünfzig oder hundert Jahre, in denen die Mauer noch steht, wie Honecker prophezeit hat.
    Aber

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