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Torstraße 1

Torstraße 1

Titel: Torstraße 1 Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sybil Volks
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nicht.
    So, jetzt drückt sie die Taste: Aufnahme. Sie räuspert sich. »Diese Platte, auf der das alberne Bananenlied drauf ist – ja, Harry, es ist nun mal albern, machen wir uns nichts vor. Schau hier, der lange Kratzer, den ich so oft mit dem Finger nachgefahren bin – da hast du mich beim Tanzen in meiner Dachbude geküsst. Man braucht doch beim Küssen vom Obst nichts zu wissen, heißt es, aber der Geschmack nach Walderdbeeren, deine Lippen auf meinen Lippen, deine Lippen an meinem Hals, da ist es passiert, erinnerst du dich, ich ging in die Knie, da gingst auch du in die Knie, und während wir beide zu Fall kamen, machte die Nadel einen Sprung. Was wäre schon bei einer Kassette passiert, Harry? Bestenfalls Bandsalat.« Aus. Was redet sie da? Das war doch weiß Gott nicht das, was sie erzählen wollte. Diese Sache, die sie noch zu Ende bringen muss.
    Nein, nein, da muss sie ganz von vorne anfangen. Sie hat es schon ein paarmal versucht, immer gab es nach kurzer Zeit Satzsalat. Sie muss sich zusammenreißen. Auch wenn jetzt wieder das Herz aus dem Takt kommt und die Brust schmerzt, die Angst kommt und das Herz noch mehr aus dem Takt bringt. Sie muss das zu Ende bringen, das schuldet sie ihr. Elsa. Keine Zeit mehr, die gleichen Fehler zu machen. Sie hätte damals mit Harrygehen sollen, das wusste sie, als es zu spät war. Sie muss ihrer Tochter die Wahrheit sagen, spät, unverzeihlich spät vielleicht für Elsa. Aber nicht für immer zu spät. Noch nicht.
    Sie nimmt die Kassette heraus und legt eine neue ein. Nicht einmal Elsie weiß von diesem Plan, dem letzten Band für Elsa. Sie hat nichts aufgeschrieben, nicht überlegt, was sie sagen soll. Sie darf auch jetzt nicht lange überlegen, sonst schafft sie es nie. Wenn sie es von vorne nicht schafft, vielleicht bekommt sie den Faden am Ende zu fassen. »Dieser heiße Tag im Juli 1970, das war das letzte Mal, dass ich ihn gesehen habe. Ich ihn, er mich nicht.« Sie hat einen Kloß im Hals, ihre Stimme klingt brüchig. Weitersprechen, einfach weitersprechen. Bis das Band voll ist.
    Heute geht Elsa seit langer Zeit wieder über die Grenze. In das andere Land, in dem Bernhard lebt. Er weiß nicht, dass sie kommt; sie weiß nicht, ob sie ihn finden wird. Aber sie muss es versuchen, muss ihn suchen.
    Am Grenzübergang Friedrichstraße reiht sie sich in die Warteschlange ein, hält die Papiere bereit und setzt einen neutralen Gesichtsausdruck auf. Es ist nicht mehr wie früher, die Furcht vor dem Zurückgeschicktwerden, vor Gepäckkontrollen und Schikanen. Ihre Einreisepapiere werden begutachtet und abgenickt, sie steckt das Besuchervisum ein und den behelfsmäßigen Personalausweis der behelfsmäßigen Berliner. Geblieben ist das Gefühl, als Westberlinerin besonders suspekt zu sein, während die Westdeutschen fast so etwas wie normale Touristen waren. Vielleicht haben sie ja recht, die Einreisenden aus Westberlin prinzipiell als Verdächtige anzusehen, normale Touristen würden sie niemals werden. Sie stiegen nicht auf Aussichtsplattformen und gingen nicht über die Grenze, um mit wohligem Gruseln einen Blick in ein exotisches Reich zu werfen. Wir gehen, denkt Elsa auf ihrem Weg Richtung Ausgang, um Verwandte und Freunde zu besuchen, sofern wir noch Verwandteund Freunde haben, die dort geblieben sind und Freunde geblieben sind. Wir gehen über die Grenze, weil wir gehen müssen. Viele ihrer Freundinnen und Bekannten aber gehen nicht mehr. Auch sie hat diese Grenze lange nicht passiert, doch das Grenzgefühl, eine Mischung aus unterschwelliger Furcht, unterdrückter Wut und einer alles überlagernden Resignation, ist zur Stelle wie ein Reflex.
    Als Elsa auf die Friedrichstraße hinaustritt, die in mildes Frühjahrslicht getaucht ist, atmet sie auf. Sie wird zu Fuß gehen bis zum Haus der Einheit und dort, so hofft sie, Bernhard finden. Wo sonst? Sie nimmt einen kleinen Umweg und spaziert die Linden entlang Richtung Osten, vorbei an der Humboldt-Universität und dem Museum für Deutsche Geschichte. Mit Stephanie hat sie einmal die Ausstellung »Sozialistisches Vaterland DDR« angesehen und sich beim Lesen der Ausstellungstafeln gefragt, ob die Texte, die Bernhard für die Zeitschrift zur Geschichte der Arbeiterbewegung schrieb, ähnlich klangen. »Das ist doch nur eine Frage der Perspektive«, hat Stephanie gemeint, »wenn DDR-Bürger in unsere Ausstellungen zur Geschichte gehen, liest sich das für sie auch wie Propaganda.« Elsa erinnert sich, dass sie protestieren

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