Torstraße 1
gerade Lust hat. Jeder glaubt, ihm ginge am Arsch vorbei, was hier abläuft. Er stellt sich vor, wie Elsa mit ihrer Bürgerinitiative vor dem Institut demonstriert.
Aber noch bevor er den entscheidenden, zerstörenden Satz sagen kann, legt Elsa ihm eine Hand auf den Arm: »Es tut mir leid. Vergiss es. Ich hab nicht daran gedacht, wie schwer das gerade alles für dich sein muss.« Sie verstummt und winkt der Kellnerin, ihr ebenfalls einen Kognak zu bringen. Elsa trinkt sonst nie tagsüber Alkohol, aus gutem Grund. Es tut ihm leid, dass er sie so weit gebracht hat. Ihre Hand zittert, als sie das Glas zum Mund führt.
»Elsa«, sagt Bernhard und fasst nach ihrer Hand, als sie das Glas wieder abgesetzt hat. »Ich möchte dir auch etwas erzählen. Martha hat nun endlich ein Grab. Einen Stein jedenfalls mit ihrem Namen, gemeinsam mit Arno und Wilhelm. Fünfzig Jahre nach ihrem Tod. So lange hat ihr Sturkopf von Sohn gebraucht, bis er es wahrhaben wollte.« Ganz warm ist Elsas Hand in seiner. Immer hat sie so warme Hände gehabt, wenn er jetzt daran zurückdenkt.
»Und nun bist du vollkommen sicher?«, fragt sie leise.
Bernhard nickt. »Als Todesdatum steht auf ihrem Stein 16. 11. 1939.« Dann sagt er, ohne sie anzusehen: »Wenn ich wieder einmal hingehe … Kommst du mit?«
Und sie antwortet: »Jederzeit.«
Zurück geht Bernhard dieselben Straßen in umgekehrter Richtung. Der Schneefall ist dichter geworden, die Autos fahren in Zeitlupe, der Weg verschwimmt im Flockengewirr. Macht nichts, er findet auch so nach Hause, über die Grenzanlagen und von der Chausseestraße immer geradeaus in den Osten. Morgen wird er wieder in der Redaktion sein und Nachrichten über den Untergang des Landes schreiben. Heute war er schon mal auf der anderen Seite. Er kann also mitreden, und er weiß, wie es Elsa geht. Alles andere wird sich finden.
An diesem Abend schläft er während der Nachrichten ein und hält das für ein gutes Zeichen. Vielleicht geht ihm das alles nicht mehr so nahe. Vielleicht gewöhnt er sich an die Dinge, wiesie laufen, und daran, dass sie sich nicht mehr aufhalten lassen. Vielleicht wird alles gut.
Vielleicht wird alles gut, summt Bernhard am nächsten Morgen auf dem Weg zur Arbeit vor sich hin. Denn der gestrige Tag war mit dem Einschlafen während der Nachrichten für ihn noch nicht zu Ende. Ein langer, verrückter Tag ist dieser einzige freie Tag geworden. Nach dem Wegdösen während der Meldungen aus aller Welt und der sich auflösenden Heimat hat er beschlossen, vor dem Zubettgehen ein heißes Bad zu nehmen. Kaum lag er im Schaum, klingelte das Telefon. Bestimmt wäre er nicht triefend aus der Wanne gesprungen und tropfend durch die Diele gelaufen, wenn er nicht plötzlich die Idee gehabt hätte, Elsa könnte am Telefon sein. Vielleicht hatte sie etwas Wichtiges vergessen. »Bernhard«, hat die Stimme am anderen Ende der Leitung gesagt, »können wir noch mal reden?« Und als ihm klar wurde, dass diese Stimme nicht zu Elsa, sondern Elisa gehörte, ist er nur einen winzigen Moment enttäuscht gewesen und dann froh und erleichtert.
Sie haben miteinander geredet. Sie haben miteinander geschlafen. Aber erst, nachdem er sich entschuldigt hat. Für die Bierflasche Richtung Schrankwand und die von ihm verursachten Scherben. Für das Nicken auf die Frage »Soll ich gehen?«. Erst nach dieser Entschuldigung war Elisa bereit, das Gespräch in der Badewanne fortzuführen, in die er heißes Wasser nachlaufen ließ, und es dann im Schlafzimmer … nicht fortzuführen. Sie kam von Herzen, seine Bitte um Verzeihung, aber er hätte ihr in dem Moment auch das Blaue vom Himmel versprochen, und zur Not eine weitere wuchtige Couchgarnitur.
Als er heute Morgen aufgewacht ist und die warme, duftende Elisa neben ihm lag, konnte er sein Glück kaum fassen. »Komm wieder nach Hause«, hat er der schlafenden Frau ins Ohr geflüstert. Elisa hat die Augen aufgeschlagen, ihn angelächelt undgemurmelt: »Vielleicht.« Vielleicht wird alles gut, summt er auf dem Weg zur Arbeit vor sich hin.
Bernhard schreibt für die Zeitung einen Text über die Revision der Ausstellung »Sozialistisches Vaterland DDR«. Die Jahre 1949 bis 1989 im Museum für Deutsche Geschichte werden bis auf Weiteres nicht mehr gezeigt, sondern überarbeitet. Eigentlich möchte er gern dabei sein, wenn es darum geht, die Dinge aufzuarbeiten und vielleicht das eine oder andere aus seinen vollgeschriebenen blauen Heften hervorzuholen, das bisher zwischen den
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