Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Torstraße 1

Torstraße 1

Titel: Torstraße 1
Autoren: Sybil Volks
Vom Netzwerk:
umkehren soll. Sein Herz fängt wieder an zu holpern und zu bocken. Er bleibt stehen und versucht, langsam zu atmen. Dreht sich um hundertachtzigGrad und schaut in die Richtung, aus der er gekommen ist. Ich könnte einfach ins Institut gehen, denkt er. Mich in die Bibliothek setzen und nichts tun. Ich will nicht auf die andere Seite. Die Wilhelm-Pieck-Straße sieht schmuddelig und grau aus. Bei dem Schneefall kann man nicht weit sehen, aber da hinten ist der rote Osten. Wenn ich immer geradeaus laufe, denkt er, komme ich nach Sibirien. Dann wendet er sich um und marschiert weiter in die andere Richtung, wie das ganze Land es tut. Da kann er sich nicht auf immer und ewig ausnehmen. Und außerdem ist er verabredet. Mit Elsa.
    In einer Stunde wird er sie sehen. Wenn er es schafft, wenn sein Herz ihn nicht vorher im Stich lässt. Und vorausgesetzt, er findet das Café. Elsa hat irgendetwas von einem gleichschenkligen Dreieck erzählt, das sie auf den Stadtplan gezeichnet hat zwischen seinem Friedrichshain und ihrem Charlottenburg. Und genau auf der Spitze dieses Dreiecks lag jenes Café, im Wedding und damit im Westen. Eine typische Elsaidee war das, auf diese Weise ihren Treffpunkt zu bestimmen. »Wird Zeit, dass du mal auf meine Seite kommst«, hat Elsa gemeint, als sie endlich miteinander telefonierten. Aber das Erste, was sie sagte, nach knisterndem Schweigen und einem Ausruf der Freude, war: »Wir müssen uns treffen, Bernhard, unbedingt. Und du musst Fotos vom Haus mitbringen. Ich hab mich noch nicht hingetraut. Und rein kommt man doch bestimmt immer noch nicht.« Das wusste er nicht einmal genau zu sagen, ob man jetzt so einfach ins Institut spazieren konnte, aber es freute ihn, dass es Elsa auch nicht so leichtfiel, in den anderen Teil der Stadt zu kommen. Das schuf, auch wenn es völlig unsinnig war, eine kleine Gemeinsamkeit.
    Bernhard läuft und läuft. Das tut gut, stellt er fest, immer weiterzulaufen, als wüsste man, wo es langgeht, dann drehen sich auch die Gedanken bald nicht mehr im Kreis. Jetzt biegt er in die Chausseestraße ein, und von da aus geht es immer geradeaus inden Westen. Er nimmt seine Aktentasche von der rechten in die linke Hand. Dass er die mitschleppen muss, er wird aussehen, als wollte er Begrüßungsgeld holen und gleich ausgeben. Dabei ist die Aktentasche einfach voll mit lauter Sachen, die er Elsa zeigen oder geben will. Am meisten wird sie sich über die Filme mit den Bildern freuen, die er in den letzten Tagen im Institut geknipst hat.
    Die Filme in der Aktentasche wiegen leicht. Das war nicht immer so. Er hatte vor vielen Jahren schon einmal für Elsa heimlich das Haus fotografiert und Wilhelm gebeten, die Filme nach Westberlin zu bringen. Sie dort einfach in den Briefkasten zu stecken. Wilhelm hatte nicht groß gefragt, sondern die drei Filmrollen eingesteckt. Und dann haben sie ihn kontrolliert, als er an der Friedrichstraße ausreisen wollte, die Filme konfisziert und Personalien aufgenommen. »Das wird Ärger geben«, hat sein Vater gesagt und ihm auf die Schulter geklopft. »Aber was wollen sie einem alten Arbeiter schon antun. Ich habe schließlich die tollsten Sachen für den Sozialismus gebaut.« Trotz Wilhelms heldenhafter Absicht, so zu tun, als hätte er die Bilder aufgenommen, konnten sie natürlich zwei und zwei zusammenzählen und ihn als Urheber ausfindig machen. Zwei Tage später stand Martin vor der Tür, ausnahmsweise ohne Charlotte. Und erklärte ihm, dass er sich für ihn verwenden werde, er wisse ja, dass Bernhard keine geheimen Informationen an den Klassenfeind bringen wolle. Aber wie er nur auf die saublöde Idee gekommen sei, das IML zu fotografieren. Von innen. Das könne im schlimmsten Fall für Spionage gehalten werden. Und wenn er ihn nicht hätte, den Offizier beim Ministerium für Staatssicherheit, wer weiß, wie das jetzt ausgehen würde. Also musste Bernhard danke sagen. Danke, dass du mich rettest, dass du dich für mich verwendest, ich werde so was Dummes nie wieder tun. Und dabei hatte er die ganze Zeit darüber nachgedacht, wie krank sie doch inzwischen schon waren. Zu glauben, dasses Spionage sein könnte, wenn er eine Bibliothek in einem Institut für Marxismus-Leninismus fotografierte. Dafür muss man schon richtig verrückt sein. Das einzig Komische an der ganzen Geschichte war, dass Wilhelm ihm später erzählt hatte, er sei nur mit zwei Filmrollen losgezogen. Die dritte hätte er zu Hause gelassen, für den Fall, dass was schiefläuft.
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher