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Torstraße 1

Torstraße 1

Titel: Torstraße 1
Autoren: Sybil Volks
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»Dann gib mir die dritte Filmrolle zurück«, hatte Bernhard gesagt, um einen Schlussstrich unter die ganze peinliche Angelegenheit ziehen zu können. Aber Wilhelm hatte den Kopf geschüttelt und gegrinst. »Der Film ist im Westen. Ich hab ihn Vicky gegeben, für Elsa, und du fragst jetzt besser nicht weiter nach. Kannst deinen Kopf ruhig mal in den Sand stecken. Ich erlaube es dir.«
    Und nun bringt er ganz offiziell Filme nach Westberlin. Für Elsa, und ohne dass ihm jemand dafür Ärger machen wird. Es ist so seltsam, nach all diesen Jahren Elsa einfach treffen zu können. Ohne Visum und lange Planung und konspiratives Versteckspiel. Vielleicht das einzig Gute an all diesem Chaos ringsum. Das ganze Land implodierte. In Leipzig hatten sie am Montag schon die Wiedervereinigung gefordert.
    Schneeflocken wehen ihm ins Gesicht und tauen, vor seinen Augen verschwimmt das puderig weiße Stadion der Weltjugend. Endlich ist der kleine weiße Wachturm zu sehen. Der Durchgang für Fußgänger ist schmal, aber um diese Zeit geht alles erstaunlich schnell. Bernhard kommt gar nicht dazu, sich noch einmal zu überlegen, ob er nicht doch lieber umkehrt, da betritt er schon Westberliner Boden. Schon jetzt kaum noch vorstellbar, dass es möglich war, mit derartig provisorisch aussehenden Grenzanlagen die Leute achtundzwanzig Jahre davon abzuhalten, hier einfach durchzulaufen. Er erinnert sich, dass an diesem Grenzübergang noch im April Schüsse gefallen waren. Nur nicht nachdenken, denkt Bernhard und findet die Tatsache, dass man denken muss, wenn man nicht nachdenken will, so komisch, dass er anfängt zu lachen.
    Ein älteres Paar kommt ihm entgegen, und der Mann sagt: »Ja, da kann man sich freuen, nicht wahr, endlich kommt wieder zusammen, was zusammengehört.«
    Bernhard lacht noch einmal, und der alte Mann weicht vor ihm zurück.
    Vor dem Café, das ihm Elsa genannt hat, überlegt Bernhard, ob er hineingehen oder draußen warten soll. Er ist zehn Minuten zu früh, Elsa ist bestimmt noch nicht da. Wenn er erst mal drinnen ist, muss er etwas bestellen. Und sollte Elsa nicht kommen, sitzt er ohne Westgeld in einem Westcafé und kann nicht bezahlen. Vorhin ist er an einer Bank vorbeigekommen, die Begrüßungsgeld auszahlt. Er könnte sich auch begrüßen lassen. Aber lieber prellt er in einem Café die Zeche.
    Da ist sie ja! An einem kleinen Tisch am Fenster sitzt Elsa und hält Ausschau. Falsche Richtung, Elsa, denkt Bernhard. Du schaust in die falsche Richtung. Ich komme doch von der anderen Seite. Er bleibt gleich hinter der Tür stehen und betrachtet sie, die ihm halb den Rücken, halb das Profil zuwendet, ohne sich ihr weiter zu nähern. Schlank ist sie immer noch, schön ist sie immer noch, und schick sieht sie aus, in ihrem schwarzen Rollkragenpullover und mit der langen Kette. Die Haare kein bisschen grau, aber das kann auch gefärbt sein. Nein, sieht nicht so aus. Das seltene helle Braun, das ihr Haar immer schon hatte, das gibt es bestimmt nicht in Flaschen. Nur ihre Augen kann er nicht sehen, und plötzlich wünscht er nichts mehr, als dass sie aufschaut und ihn entdeckt. Wünscht sich, dass sie zuerst überrascht ist und dann das mysteriöse Elsalächeln über ihr Gesicht huscht. Nun sieh doch endlich her, denkt Bernhard, aber sie schaut weiter aus dem Fenster, in die falsche Richtung. Endlich setzt er sich mit weichen Knien in Bewegung und erreicht ihren Tisch.
    »Elsa«, sagt er, und sie springt von ihrem Stuhl auf.
    »Bernhard!« Das Lächeln huscht über ihr Gesicht, und im nächsten Augenblick sieht sie aus, als würde sie gleich weinen.
    Sie vergräbt ihr Gesicht in seinem Jackenkragen, der feucht vom Schnee ist, und Bernhard streicht ihr über die Schultern und atmet tief ein. Kann Elsa riechen und findet, dass sie auch mitten im Winter so riecht, wie sie schon immer gerochen hat, nach Sonne und Seife. Er hatte ihr das mal gesagt, als sie noch Kinder waren, und damals hatte sie ihm erklärt, man müsse duften sagen, nicht riechen. Und jetzt duftet sie immer noch nach Sonne und Seife. Und ein bisschen nach einem Parfüm, das er nicht kennt. Bernhard atmet den Elsaduft ein und aus und ist froh, dass er den Weg hierher gefunden hat. Löst sich sanft aus ihrer Umarmung, schält sich aus der Jacke und setzt sich ihr gegenüber. So bleiben sie erst einmal eine Weile stumm, als müssten sie sich aneinander gewöhnen. Sie können gut so sitzen und warten, bis die Worte kommen. Konnten sie immer schon. Die Zeit dehnt
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