Torstraße 1
Deckeln bleiben musste. Aber er ist sich nicht sicher, ob sie die Geschichte, die sie selbst aufgeschrieben haben, jetzt auch noch umschreiben können.
Das Einzige, wozu er sich nach der Arbeit noch aufraffen kann, ist ein Anruf bei seiner Schwester. »Wie geht’s dir?«, fragt er und hört im Hintergrund Martin rufen. »Wo war er denn die ganze Zeit?«, will Bernhard wissen.
»Im Dienst, wie ich es dir gesagt habe.« Charlotte tut, als sei das sonnenklar gewesen, als habe sich bei ihr nicht der leiseste Zweifel breitgemacht. Sie verabreden sich für den kommenden Sonntag, obwohl er Charlotte und Martin eigentlich gar nicht sehen will.
Wen er liebend gern sehen würde, sprechen und in so vielem um Rat fragen, ist Wilhelm. Der Vater fehlt ihm so in diesen Tagen. Wahrscheinlich hätte der sich, trotz aller Unsicherheiten und Zweifel, doch auch gefreut über das, was da gerade geschieht. Während er von der erstbesten Hoffnung in die nächstbeste Enttäuschung fällt und das Gefühl hat, alles und alle rasten um ihn her und ihm davon. Es gibt keinen Ort mehr, an dem er zur Ruhe kommt. In der Redaktion hetzen sie wie aufgescheuchte Hühner durch die Gänge, und er hat nicht einmal mehr Zeit, um sich im Institut zu verkriechen. In den Archiven und in der Geschichte, die jetzt ohne ihn geschrieben und umgeschrieben wird.Kurz bevor der November zu Ende geht, steht für Bernhard die Überlegung, alles hinzuschmeißen, ganz oben auf der Liste der bedenkenswerten Dinge. Er hat zwar keine Vorstellung, wohin er gehen könnte, wer einen gelernten DDR-Journalisten wie ihn wofür würde haben wollen, aber das scheint in manchen Momenten vollkommen egal zu sein. Immer häufiger bleibt er abends einfach an seinem Schreibtisch sitzen, starrt Löcher in die Luft und versucht, an banale, einfache Dinge zu denken. An einem dieser Abende kommt ein Kollege, um zu fragen, ob Bernhard mit ihm den kommenden Sonntagsdienst tauschen könne. »Meine Mutter wird Samstag beerdigt. Ich glaube nicht, dass ich da Sonntag schon wieder froh und munter sein werde.«
Bernhard nickt. Das ist kein Problem. Sonntags zu Hause sein zu müssen, das ist ein Problem. Obwohl bis dahin vielleicht Elisa wieder bei ihm ist. Dann könnten sie zusammen einen Ausflug machen, Richtung Osten zum Beispiel, an die Oder. Laufen, einen Grog trinken, reden, den Polen beim Angeln zusehen. So was in der Art. Aber weil es gar nicht sicher ist, ob Elisa am Sonntag da sein wird, nimmt er lieber den Dienst.
»Hast du was da?«, fragt der Kollege, und Bernhard bückt sich, um die halb volle Flasche Schnaps aus dem Schreibtisch zu holen. Gläser hat er auch, also kann es losgehen. Ein paar Minuten sitzen sie beide schweigend da und trinken den blauen Würger, wie das Zeug genannt wird. Eine treffende Bezeichnung, das fand er schon immer. Er kippt das Glas hinunter und weiß einmal mehr, wie schnell man das wohlige, warme Gefühl mögen und vermissen kann, das so ein Schnaps hinterlässt. Jeder Schluck schreit nach dem nächsten, so ist das. Deshalb wird er morgen mit dem ganzen Mist aufhören und in der Redaktion nichts mehr trinken.
»Ich war heute im Jagdgebiet von Willi Stoph«, erzählt der Kollege. »Habe mir mit den anderen Kollegen das Haus angeschaut.Fünf Bäder und ’ne Menge Zimmer. Zehn Kühlschränke. Wozu man die braucht, zehn Kühlschränke, das muss einem mal einer erklären.« Bernhard hört zu und schweigt. »Ziemlich unangenehm, da rumzulaufen. War uns ja nicht unbekannt, dass die alten Herren ganz gut gelebt haben in Wandlitz und anderswo. Soll man jetzt überrascht tun und einen Aufschrei von sich geben?«
Bernhard schüttelt den Kopf. »Musst du denn was darüber schreiben?«
Der Kollege schaut mit glasigem Blick in die Ferne. »Ich hab die Agenturmeldung genommen. Was Besseres ist mir nicht eingefallen. Wirklich, wir sind die Falschen für so was. Das kauft uns doch kein Mensch ab, wenn wir plötzlich anfangen, offen und ehrlich zu sein.«
»Ich glaube, ich gehe hier raus.« Bernhard füllt sein Glas und kippt sich das Zeug hinter die Binde, als sitze er an einem Stammtisch, den es morgen schon nicht mehr geben wird. »Das macht keinen Sinn. Mit sechzig fängt man nicht an, ganz von vorn zu denken. Selbst wenn man es wollte. Und ich will es nicht einmal.«
Der Kollege nickt und trinkt. So bleiben sie beide sitzen und leeren die Flasche, bis ihnen das schwere Herz warm wird.
»Dann wollen wir mal«, sagt Bernhard irgendwann und steht schwankend auf.
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