Torstraße 1
Augen leuchten. »Na, det vom Rockefella.« Während Harry Klavier spielt, sitzt Irma auf seinem Schoß und singt: »Er hat das Gold im Keller, und ich hab keinen Heller. Doch er kann pleitegehen, und mir kann nichts geschehen.«
Harry hält inne. »Irma, du solltest hier singen statt Trixie!«
»Träum weiter. Haste mir ma in die Augen jesehn?«
»Und ob. Immer schön eins nach dem andern, dann geht’s.«
Später auf dem Zimmer erzählt er ihr alles über seinen Freund, der ein echtes Schwein ist und sein Mädchen mit einem Kind hat sitzen lassen.
Mag sein, dass der Film von vorne bis hinten Humbug ist, aber ›Das Fräulein von Kasse 12‹ müssen Vicky und Elsie zusammen ansehen. Das Kino ist voll mit jungen Frauen – Sekretärinnen, Verkäuferinnen, Telefonistinnen –, es raschelt, flüstert und knistert von Kleidern, Klatsch und Bonbonpapier.
»Wie lang ist Oma Chaja gebucht?«, will Elsie nach der Vorstellung wissen. »Noch Zeit, um mit dem Fräulein von der Pumpstation einen heben zu gehen?« Vicky knöpft umständlich ihren Mantel zu. »Komm schon.« Elsie hakt sich bei Vicky ein. »Falls du mal wieder abgebrannt bist – ich pump dir auch.«
»Nein, nein. Ich muss nach Hause. Chaja wartet.« Vicky küsst Elsie rechts und links auf die Wange. »Ein andermal.« Sie spannt den Schirm auf und schlägt, den Blick der Freundin im Rücken, den Weg in Richtung Wohnung ein. Dann biegt sie um die Ecke und beginnt zu rennen. In der regennassen Nacht ragt das Kaufhaus Jonass düster in den Himmel, mit Hunderten dunkler Fenster. Tagsüber ist es ihr mit seinen Seitenflügeln immer wie ein prächtiges Schiff erschienen, bereit zum Ablegen. Jetzt liegt es mit seiner wertvollen Fracht verlassen im Hafen, und sie wird es entern als blinder Passagier. Einen Moment wird ihr schwarzvor Augen, als sie den Schlüssel zum Nebeneingang ins Schloss steckt. Wenn nun doch etwas schiefgelaufen ist und gleich der Alarm schrillt, gefolgt von Polizeisirenen?
Alles bleibt still, nur Vickys Herzschlag dröhnt in den Ohren. Den Weg in diesen Raum finde ich blind, hat sie gesagt. Gut, hat er geantwortet, wir dürfen kein Licht machen. Die Tür steht halb offen, und sie weiß, dass er drinnen auf sie wartet. Sie geht einen Schritt in den Raum. Schwarz zeichnet sich seine Silhouette vor dem Fenster ab.
Bald ist der ganze Raum von ihrem Atmen erfüllt. Blinde Passagiere sind sie, tief im Bauch des Schiffes. Nur Harrys warme Hände lotsen sie durch die Nacht. Ein seltsames Brautbett ist der lange Tisch in der Mitte des Raums.
Das raue Sackleinen hat ihr den Rücken zerkratzt. Sie legt den Kopf zurück. »Deutsche Reichspost«, flüstert Vicky. Zum Lesen ist es zu dunkel, aber die Erinnerung an jene andere Nacht ist taghell und scharf.
Am Morgen scheint eine milde Spätsommersonne, es wird ein warmer Tag werden. Trotzdem bindet Vicky sorgfältig ein Seidentuch um den Hals. Die blauvioletten Flecken erinnern sie daran, dass die vergangene Nacht kein Traum war. Und doch erscheint sie ihr so berauschend, wie nur ein Traum sein kann, und ebenso flüchtig. Etwas ist unwiderruflich vorbei. Von all den Wünschen, die sie einmal an diesen Mann gehabt hat, den sie als Ehemann und Vater ihrer Kinder wollte, als Freund und Weggefährten und Ein und Alles, ist nur das Begehren nach dem Liebhaber übrig geblieben.
Vor dem Jonass rattern Straßenbahnen vorbei, Lieferwagen fahren durchs Tor in den Wirtschaftshof. Menschen strömen zum Haupteingang, der dicke Zeitungsverkäufer mit der hohen Stimme schreit wie jeden Morgen »das Neuste vom Neusten« in die Welt hinaus. »Ausschreitungen am Kurfürstendamm!«Vicky will wie gewöhnlich an ihm vorbeigehen. »Jüdische Geschäfte demoliert!« Vicky bleibt stehen. Sie kauft eine Zeitung vom 13. September 1931 und beginnt noch im Gehen zu lesen. »Gestern Abend, am jüdischen Neujahrsfest, kam es um den Kurfürstendamm zu Ausschreitungen. Hunderte SA-Männer nahmen an einer Demonstration teil. Jüdisch aussehende Passanten wurden angegriffen und Geschäfte jüdischer Inhaber demoliert.«
In der Damenkonfektion ist noch nicht viel Betrieb am Morgen. Eine füllige Dame möchte, dass Vicky ihr im Anprobesalon eine Abendrobe absteckt. Mechanisch nimmt Vicky eine Stecknadel nach der anderen aus dem Mund und versenkt sie im Stoff. An die Schlachten zwischen SA und Kommunisten hat man sich ja gewöhnt, wenn man nicht gerade selbst einen Stein an den Kopf bekam wie Chaja. Aber Bürger auf offener Straße
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