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Torstraße 1

Torstraße 1

Titel: Torstraße 1 Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sybil Volks
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Dass sie mich geheiratet hat, obwohl ihre Eltern etwas Besseres für sie wollten, werde ich ihr nie vergessen.«
    Harry schaut seinem Vater in die Augen. »Dann denkst du also auch, dass Liebe wichtiger ist als Herkunft und Geld?«
    »Das Jonass ist kein Konzern wie Wertheim oder Hermann Tietz mit seinen vielen Filialen. Wir haben alles auf diese eine Karte gesetzt. Und nun setzen wir auf dich, Junge.«
    Am Abend sagt Vicky zu Harry: »Du solltest dein Studium zu Ende bringen, bevor Elsa das H und R sprechen lernt.« Dann erzählt sie ihm vom Kindergeburtstag und Elsas »Alli« beim Puppenspiel. Gleich darauf wünscht sie, sie hätte es nicht getan.
    »Wir können uns nicht mehr treffen, wenn sie dabei ist«, sagt Harry in einem Ton, dass es Vicky kalt den Rücken herabläuft. »Ohne sie – oder ohne mich.«
    Ein paar Tage später läuft Vicky, den Blick auf den Boden geheftet, am Bülowplatz Wilhelm beinahe in die Arme. Sie plaudern ein wenig über die Arbeit, das Leben und die Kinder. »Und was macht Kalli?« Wilhelm zwinkert Vicky zu.
    »Kalli?«
    »Na, der Nachbar, der manchmal etwas reparieren kommt.«
    »Ach, der. Der ist weggezogen.«
    Der Platzanweiser vom »Babylon« hat recht behalten, denkt Harry auf dem Weg zur »Berolina-Bar« am Alexanderplatz, wo er heute Nacht spielen soll. Die Stummfilme mit Musikbegleitung sind so gut wie abgeschafft. Und nicht jeder ist gut genug für die Philharmonie oder einen Plattenvertrag mit Electrola wie die Comedian Harmonists. Er hat es ja versucht, aber noch einmal auslachen lässt er sich nicht.
    In der »Berolina« gibt es keine Wirtschaftskrise. Hier sitzen fünfhundert Gäste auf Holzbänken, trinken Bier, verspeisen Eisbein für fünfzig Pfennige und bekommen als Beilage Gesang und Geklimper serviert. Die Sängerin, die Harry am Klavier begleiten soll, nennt sich Trixie. Im kurzen Röckchen, blass und mager, sieht sie wie ein durchgebranntes Schulmädchen aus. Wären da nicht die Augen, dick mit blauem Lidschatten bemalt, vielleicht, um zu kaschieren, dass ein Auge schon zuvor blau war. Ohne Harrys Einsatz abzuwarten, legt Trixie los. »Das iiist die Liebe der Matrosen …« Sie liegt locker eine halbe Oktave zu hoch! Er stolpert auf den Tasten hinterher, versucht, sie einzuholen. Zu seiner Verblüffung gibt es am Ende Applaus. Zumindest von denen, die nicht gerade das Bierglas stemmen oder das Knie ihrer Begleiterin tätscheln. Vielleicht gilt der Applaus Trixies kurzem Rock. Oder dem Umstand, dass man hier sitztund Eisbein isst, während andere ins Gras gebissen haben. Täglich treiben neue Leichen im Landwehrkanal.
    Endlich ist es vorbei. Harry klappt den Klavierdeckel zu. Er hat mitgesungen, zweite Stimme, und alles nur, um Trixies Gequietsche abzumildern. Dafür kriegt er natürlich keinen Heller extra. Der Oberkellner überreicht ihm das übliche bisschen Gage, Freibier und einen Teller Erbsensuppe mit Speck, den er zur Seite schiebt. Er hat mittags von Mutters Rinderrouladen auf Vorrat gegessen.
    »Kann ick?«, fragt Trixie mit Blick auf seinen Teller, nachdem sie ihren in zehn Sekunden geleert hat. Sie leert auch den zweiten Teller, wischt den Mund am Ärmel ab und springt vom Stuhl auf.
    Mitten in der Nacht sind von den fünfhundert Gästen nur die ganz Betrunkenen und Einsamen übrig geblieben. Erstere werden links liegen gelassen, oder auch rechts, je nachdem, unter welche Seite der Bierbank sie gerollt sind. Nach Letzteren wird der Saal von den Nutten durchkämmt, die vom Chef eine Lizenz zur Resteverwertung haben. Harry sitzt allein am Tisch in einer dunklen Ecke, den Kopf auf die Arme gelegt. Zu Vicky traut er sich nicht mehr, und nach Hause will er noch nicht. Er hat die kleine Elsa seit Monaten nicht gesehen, nur zweimal, als sie fest schlief. Er hätte es selbst nicht gedacht, aber er vermisst die Göre.
    Zwei Mädchen steuern auf Harry zu, die Brünette macht das Rennen und spricht ihn an. Statt einer Antwort kommt nur ein Schluchzen. Dann hebt Harry den Kopf und stellt fest, dass das Mädchen ihn neugierig oder auch mitleidig anschaut. Vielleicht liegt es an ihrem Silberblick, dass sich das nur schwer entscheiden lässt. Trotzdem, ziemlich hübsch ist sie. Die meisten Nutten hier im Viertel sehen aus wie biedere Hausfrauen, die nach der Schicht ihren Kindern oder Enkeln die Hosen flicken. Oder wie Waschfrauen mit Tätowierungen auf den Armen. Die hier aber nicht. »Spiel noch ma det Lied«, sagt sie.
    »Welches Lied?«
    Ihre zueinander driftenden

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