Torstraße 1
den Kalli«, sagt sie und lacht. »Ein Nachbar, der manchmal etwas repariert.«
Harry schwingt sich vor dem Eingang zur Friedrich-Wilhelms-Universität aufs Fahrrad, um zum Jonass zu fahren. Er schiebt die Schirmmütze zurück und tritt pfeifend in die Pedale. Als er an einer Straßenecke warten muss, um eine Gruppe von Kindern vorbeizulassen, hört er mitten im Lied auf zu pfeifen. So geht es nicht weiter, denkt er, nun habe ich eine zweijährige Tochter und nicht mal Geburtstag mit ihr gefeiert. Ihre Großeltern wissen noch immer nichts von ihr. Was die Sache nicht einfacher macht. Harry übt im Stillen seine Rede: »Ach, übrigens, liebe Mama, lieber Papa, was ich euch immer schon erzählen wollte … Aber es ist jedes Mal etwas dazwischengekommen …« Es ist einfach lächerlich. Egal wie, heute muss er raus mit der Sprache. Sonst kann er bald nicht mehr in den Spiegel gucken.
Noch in der Tür zu Heinrich Grünbergs Büro schwenkt Harry die eben erstandene BZ am Mittag . »Ausgabe von 11 Uhr 30 mit Börsenkursen von 11 Uhr 20!« Sonst reißt sein Vater ihm das Blatt aus der Hand, doch heute bleibt er stumm hinter seinem Mahagonischreibtisch sitzen. Harry muss auf dem Besucherstuhl gegenüber Platz nehmen.
Der Rundfunkempfänger läuft, Grünberg legt einen Finger auf die Lippen. »In leeren Geschäften stirbt ein verarmter Mittelstand«, dröhnt es in die Stille des Kontors, »aber in denHauptstraßen schießen die Trutzburgen des Kapitals, die Warenhäuser, hoch.«
»Wer ist das denn?«, entfährt es Harry. »Die Trutzburgen des Kapitals, du meine Güte.«
»Ein gewisser Göring. Aber über den wollte ich nicht mit dir sprechen.« Grünberg schaltet das Radio aus. »Wir sind uns einig, was Gerd Helbig angeht?« Harry blickt ihn überrascht an. »Er ist ein Karrierist, ein Deutschnationaler, vermutlich ein Antisemit. Der dennoch für einen Juden arbeitet, solange der ihn gut bezahlt.« Grünberg lächelt. »Aber er ist auch ein fähiger Mann, der etwas von Zahlen versteht, nicht?« Harry nickt. »Nun, Helbig hat mich auf Unregelmäßigkeiten in der Kasse aufmerksam gemacht. Keine großen Summen, kleinere Beträge Bargeld, die früher oder später wieder ausgeglichen wurden. Er meint, es kann nur jemand sein, der einen Schlüssel zu einem speziellen Schrank besitzt.«
Harry wird bleich, dann rot. Heinrich Grünberg seufzt. »Helbig hat sein Wort gegeben, mit niemandem darüber zu sprechen und die Aufklärung mir zu überlassen. Es ist ja auch immer alles wieder eingezahlt worden. Das heißt«, Grünberg blättert in den Papieren, »momentan stehen noch fünfunddreißig Mark und siebzig Pfennige aus.« Harry zieht sein Portemonnaie hervor. Grünberg winkt ab. »Lass stecken, Junge. Erklär mir lieber, was das Ganze zu bedeuten hat.«
Jetzt wird Harry erst rot, dann bleich. »Was ich dir und Mama schon länger erzählen wollte: Es gibt da eine Frau … Sie ist charmant und schön, klug und entzückend, aber …« Er bricht ab und sieht auf die blank polierte Tischplatte.
»Aber aus dem falschen Stall und völlig mittellos«, ergänzt sein Vater. Harry schaut ihn hoffnungsvoll an, doch Grünberg schüttelt den Kopf. »Hör zu, Harry, so genau will ich das alles gar nicht wissen. Wenn du ein Liebchen hast hier oder da … Ich war auch mal jung. Hauptsache, du bringst uns eine anständigeSchwiegertochter nach Haus. Enttäusche Mutter nicht!« Er holt eine Flasche Cognac aus dem Schrank, gießt sich ein Glas ein und reicht ein zweites seinem Sohn. »Weißt du, für Alice ist es sehr schwer. Seit dem Oktober ’29 ist sie in ständiger Sorge. Unsere Reserven sind weg, und nun hängt all unser Wohl und Wehe an diesem Kaufhaus.«
Harry fällt auf, wie erschöpft sein Vater aussieht. Er beugt sich vor. »Aber es läuft doch gut, oder nicht?«
»Noch halten wir den Kopf über Wasser. Aber wenn es so weitergeht in Deutschland – Arbeitslose können auch auf Pump nichts kaufen. Und du weißt ja, wie abergläubisch deine Mutter sein kann.« Grünberg lächelt müde in sein Cognacglas. »Der Schwarze Freitag so kurz nach der Eröffnung, das ist ein schlechtes Omen, hat sie immer gesagt. Kaum haben wir begonnen – und dann so ein Unglück. Alles geht uns schief.«
»Aber Vater, uns geht es doch blendend. Schau dich einmal um auf den Straßen …«
»Du hast völlig recht. Aber für Alice ist es anders. Sie kommt aus einer guten Familie, hat nie Not leiden müssen. Wurde immer beschützt und von allem abgeschirmt.
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